Der eigentliche Ursprung des Gay Pride ist nicht der Stolz, sondern die Scham. Als die Aktivist*innen diesen Begriff prägten, meinten sie keinen Stolz, den eine besondere Leistung rechtfertigt. Der Begriff diente vielmehr als ein psychologisches Gegengift: Der schwullesbische Stolz sollte die schwullesbische Scham heilen.
Im letzten Jahrhundert war diese psychologische Strategie noch so offensichtlich, dass man sie niemandem erklären musste; heute dagegen ist die Scham weitgehend aus unseren Diskussionen verschwunden. Das ist seltsam und schade, denn ohne dieses Wort können wir einen zentralen Aspekt unserer Situation nicht verstehen.
Dabei haben wir ja wirklich viele Begriffe, um zu beschreiben, was mit uns geschieht: Diskriminierung, um ungerechtes Handeln und Sprechen aus einer äußerlichen, objektivierten Perspektive heraus zu benennen. Homophobie, Trans-, Bi- und Queerphobie, um zu erklären, was in den Gedanken und Gefühlen unserer Gegner*innen vorgeht. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, um Homophobie, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus usw. nebeneinander zu stellen und aufzudecken, dass sie allesamt ähnlich funktionieren. Ausgrenzung, um den Entzug von sozialer Teilhabe zu beschreiben.
Nur sehr gelegentlich reden wir über den sogenannten schwulen Selbsthass, also über die verinnerlichte Ablehnung unserer eigenen Identität, und meistens meinen wir damit Andere und nicht uns selbst. Warum eigentlich? Es kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass die dauerhaften queerfeindlichen Aggressionen von außen in unseren Gefühlshaushalt dringen und sich dort fester einnisten, als uns lieb ist. Und das betrifft sicher nicht nur einige Extremfälle, die sich durch begeisterte Unterstützung besonders queerfeindlicher Organisationen bemerkbar machen. Nein, wir können sicher annehmen, dass die Tendenz zur Selbstablehnung in den Allermeisten von uns herumspukt, mal in geringerer, mal in höherer Dosierung.
Ich vermisse eine größere Debatte um diesen Aspekt. Deshalb möchte ich anregen, den aus der Mode gekommenen Begriff Scham in die Diskussion zurückzuholen.
* * *
Ich ahne Lesende, die sich jetzt fragen: „Was redet der da von Scham? Das spielt doch heute gar keine Rolle mehr“, und möchte zunächst erklären, wo ich Scham am Werke sehe.
Religion
Religiöse Funktionär*innen, schon immer Expert*innen der organisierten Beschämung, stellen Homosexualität unbeirrt von nach-antiken Erkenntnissen und humanistischer Ethik als „schwere Sünde“ dar, als ein Verbrechen gegen die Schöpfungsordnung. An Dramatik mangelt es dabei selten: Unsere Liebe und Sexualität werden immer wieder auf eine Stufe gestellt mit Diebstahl, Betrug, Mord und Schlimmerem – lauter Dinge, für die man sich zu recht schämen sollte. Religiöse Amtsträger*innen überbieten einander im Ausmalen der menschlichkeits-, ja menschheitsbedrohenden Qualitäten dieser gefährlichen ethischen Verirrung. Homosexualität wird zu etwas erklärt, zu dem man sich höchstens voller Scham bekennen kann, nicht nur den Menschen, sondern auch den jeweiligen Gottheiten gegenüber, vor deren richtenden Augen diese Schande ohnehin nicht zu verbergen ist. Geheuchelte Toleranz in Form von Mitleid verdienen Schwule und Lesben nur dann, wenn sie sich vor Scham und Reue auf dem Boden winden. Nicht alle religiösen Funktionäre werden dabei so deutlich wie der griechisch-orthodoxe Bischof Ambrosios von Kalavryta, der sich vor wenigen Wochen zu Homosexuellen so äußerte:
„Wann und wo auch immer Sie diese Leute treffen: Spucken Sie auf sie!“
Auch gehen nicht alle so weit wie er, Schwulen und Lesben gleich das Menschsein abzusprechen. Aber immer gilt: Beschämung ist das zentrale Ziel. Unzählige religiöse Funktionär*innen sehen die „idealen“ Homosexuellen nicht als glückliche, aufrechte Menschen, sondern als unglückselige, schamgepeinigte Opfer ihres eigenen Schicksals. Drohungen, Ausgrenzungen und geheuchelte Umarmungen sollen uns zwingen, die Scham zu verinnerlichen. Und oft genug gelingt das.
Familie
Ein zweiter zentraler Ort der Beschämung ist die Familie. Hier lernen wir von klein auf, was okay und was tabu ist, was wir zeigen und was wir verbergen sollen, worauf wir stolz sein können und wofür wir uns zu schämen haben. Homosexualität gehört meist zu Letzterem. Gern wird dabei der persönliche Druck durch familiäres Mitschämen von Eltern und Geschwistern erhöht. Teils bis ins fortgeschrittene Alter hinein wird an uns appelliert, die Familienehre nicht durch eine unorthodoxe Biografie (kinderlos und unverheiratet) oder vermeintlich unschickliche Sexualität zu beschmutzen. Was sollen schließlich die Nachbarn sagen? Viele Eltern schämen sich für uns queere Kinder, sie lassen uns das deutlich spüren und sie erwarten, dass wir die Scham übernehmen – wiederum oft erfolgreich.
Schule und Freund*innenkreis
Die dritte große Schamfabrik ist die Schule. Machen wir uns nichts vor: Sexismus und die damit einhergehende Abwertung von Weiblichkeit ist nach wie vor flächendeckend in unserer Kultur verbreitet. Ein Mann, der sich irgendeinen Moment vermeintlicher Weiblichkeit „zu schulden kommen“ lässt, der sollte – genau: sich schämen. Nichts torpediert deshalb die tastende Identitätssuche männlicher Pubertierender erfolgreicher als der Zuruf „Schwuchtel!“ Nichts Anderes ist so beschämend, und genau das macht diese zur beliebtesten, weil wuchtigsten Beleidigung auf deutschen Schulhöfen. Die Botschaft an junge Schwule ist überdeutlich: Schwulsein ist eine Schande. Schäme dich, wenn du so bist! Man benötigt keine Fantasie, um sich auszumalen, dass diese Botschaft gründlich einsickert, wenn sie alltäglich aufs Neue gesendet wird, und zwar von den allernächsten Menschen, an denen man sich orientiert.
Lächerlichkeit
Man kann Menschen auf verschiedene Weisen dazu bringen, sich zu schämen. Besonders gut funktioniert es durch Lächerlichmachen. Die eben genannte Beschimpfung als „Schwuchtel“ beruht sehr stark auf diesem Aspekt. Die verbale Beleidigung wird dabei gern begleitet von kleinen parodistischen Aufführungen mit verstellter hoher Stimme oder affektierten Gesten: Das alles soll zeigen, dass Schwulsein etwas Lächerliches ist, dass Schwule keine respektablen Männer, sondern Witzfiguren sind. Unzählige Schwulenwitze, in denen die Pointe nicht auf verblüffenden Wendungen beruht, sondern in denen Homosexualität an sich die Pointe ist, tragen die selbe Botschaft weiter.
Auch in den Medien tauchen schwule und andere queere Rollen immer wieder als betont lächerliche Figuren auf. Bereits 1973 erklärte die US-amerikanische Gay Activist Alliance in ihren Richtlinien für Hollywood-Produktionen an allererster Stelle:
„Homosexualität ist nicht witzig.“
Sie hatte mehr als ausreichenden Anlass zu dieser Klarstellung, und dieser Anlass besteht bis heute.
Schockierende Momente der Lächerlichmachung erlebte die queere Welt in den 1980er Jahren, als Sprecher des Weißen Hauses wiederholt und in aller Öffentlichkeit geschmacklose Scherze über Aids-Opfer machten, in der offenkundigen Annahme, dass das ohnehin nur Perverse betreffe, deren Leben nichts gelte. Tausende Menschen waren damals bereits qualvoll gestorben; für die Reagan-Regierung waren ihre Schicksale nichts als ein Witz.
Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen. Lächerlichkeit zerstört Respekt und verhindert Solidarität. Wer zu einer lebenden Witzfigur erklärt wird, entwickelt kein Selbstbewusstsein und keinen Stolz und kann nicht mit Unterstützung von Anderen rechnen. Es bleiben nur Scham und Isolation.
Sexuelle Scham
Ein weiterer Aspekt, den wir hier ins Blickfeld nehmen müssen, ist die Verengung von schwulem / queerem Leben auf Sexualität. Wir können noch so oft beteuern, dass auch eine lesbische oder schwule Partnerschaft nicht nur aus Sex, sondern auch aus gemeinsamem Alltagsleben besteht – beim Anblick zweier händchenhaltender Männer geht dennoch das Kopfkino bei den Beobachter*innen los, das diese beiden Männer in aller Regel nicht beim gemeinsamen Entenfüttern zeigt.
„Schwule sind für diese Leute nichts weiter als wandelnde Kopulationen“,
bringt es die irische Aktivistin Panti Bliss auf den Punkt. Diese sexualisierte Außenwahrnehmung verschiebt jede noch so harmlose Zuneigungsäußerung in den Bereich der sexuellen Intimität, und solcher „Schmuddelkram“ hat doch in der Öffentlichkeit nichts verloren. Das sexuelle Schamgefühl, das die öffentliche Darstellung von expliziter Sexualität üblicherweise verhindert, wird bei uns auf jegliches sichtbare Beziehungsleben übertragen, ja sogar auf die bloße Erwähnung unserer Identität. Jede unserer Äußerungen wird dementsprechend als Schamlosigkeit ausgelegt; es wird das Einhalten der Schamgrenzen gefordert – unter Verdrängung der Tatsache, dass dabei vollkommen unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden: Bei Heterosexuellen soll nur die explizite sexuelle Intimität unsichtbar bleiben, bei uns dagegen alles, was auch nur entfernt mit Beziehungsleben zu tun hat. Die tief liegenden Schamkomplexe, die in unserer Gesellschaft mit Sexualität im engeren Sinn verbunden sind, werden unserer gesamten Identität übergestülpt.
In zahllosen Diskussionen habe ich erlebt, dass Schwule diesen Mechanismus verinnerlichen und ihr gesamtes eigenes Beziehungsleben der hohen Diskretionsstufe zuordnen, der andere nur ihr konkretes Sexualverhalten unterstellen. Es wird ein schwieriges Unterfangen bleiben, diese Verknüpfung zu lösen und so diese Schamquelle zum Versiegen zu bringen.
Ekel
Arschficker, Kotstecher, Spinatrührer, Popo-Pirat – die Liste der kreativen Vokabeln, mit denen Schwulsein auf Analsex reduziert wird, ist lang. Die enge Verbindung unserer Identität mit sexuellen Praktiken, Körperregionen und Ausscheidungen, die bei einem großen Teil der Bevölkerung Ekel auslösen, trägt zur Produktion von Scham bei. Hier geht es nicht um ethische Bewertungen, sondern um deren Verankerung in körperlichen, reflexhaft gewordenen Reaktionen: „Igitt! Schwule sind eklig!“ Wie kann man selbstbewusst bleiben, wenn man als eklig wahrgenommen wird?
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Der Soziologe Norbert Elias sagt, die Funktion der Scham sei die Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge. Ich halte es für sehr wichtig, dass wir uns diese Mechanismen klar machen. Auf unsere Situation übertragen bedeutet das: Queerfeindlichkeit findet nicht nur „da draußen“ statt, sondern auch in unserem Inneren. Mithilfe der Scham pflanzt sich die Gewalt der Heteronormativität in unser Gefühlsleben ein und sorgt dafür, dass wir uns selbst kontrollieren, zensieren, blockieren. Scham ist das Scharnier zwischen Diskriminierung und Selbsthass. Dieser Selbsthass wirkt, und zwar auch und vor allem dann, wenn wir es nicht wahrhaben wollen.
Wo immer uns Diskriminierung begegnet – die Scham ist die innere Stimme, die uns zuflüstert: Das geschieht dir recht. Du verdienst diese Abwertung, diese Beleidigung, diese Entrechtung, diese Gewalt. Weil du wirklich nicht gleichwertig bist. Weil du lächerlich bist, unmoralisch, unnütz. Du bist eine Schande. Für deine Familie, für deine Religion, für die Gesellschaft, für dich selbst.
Das erste Coming-Out, immer noch eine der krisenhaftesten Lebensphasen vieler queerer Menschen, ist nicht nur deswegen so schwierig, weil oft berechtigte Sorge vor äußerer Ablehnung besteht. Es ist nicht zuletzt die verinnerlichte Scham, die diesen Schritt so erschwert. Es geht dabei um die Entblößung von etwas, von dem wir gelernt haben, dass es etwas extrem Intimes sei, und das wir deswegen aus Schamgefühl verborgen gehalten haben. Das kostet Überwindung.
Und wo immer wir den Impuls verspüren, sichtbar zu werden, aufzubegehren, uns miteinander zu solidarisieren, da ist die Scham zur Stelle und flüstert: Nein, zeig deine Schande nicht, mach das unsichtbar, das geht doch wirklich niemanden was an, halt den Mund. Scham rechtfertigt die Unsichtbarkeit. Das, wofür wir uns schämen, verbergen wir; wir fürchten die Offenlegung, die Öffentlichkeit. „Der Schamerfüllte“, schreibt der Psychoanalytiker Erik H. Erikson, „muss seine eigene Unsichtbarkeit wünschen.“
Es ist die Scham, die uns zu duldsamen Opfern und unfreiwilligen Mittäter*innen gleichzeitig macht. Es ist die Scham, die uns Ungerechtigkeiten mit gesenktem Blick ertragen lässt. Es ist die Scham, die uns lähmt, uns verstummen lässt und uns einsam macht.
Und deswegen ist sie der Ansatzpunkt für eine Strategie, die nicht nur außen ansetzt, sondern auch innen. Dazu müssen wir zunächst einmal zu der Erkenntnis zurückkehren, dass Scham immer noch eine Rolle in unserem Leben spielt. Wir müssen erkennen, wo Beschämungen stattfinden und warum. Wir müssen uns klarmachen, wo Beschämung als gezielte politische Strategie eingesetzt wird, um Solidarisierung und Engagement zu verhindern.
Ein entscheidender Ansatzpunkt ist es natürlich, Beschämungen möglichst von vornherein zu verhindern. Ich rechne es unseren Aktivist*innen hoch an, dass sie die Antidiskriminierungsarbeit im Bereich Bildung und Erziehung endlich verstärkt ins politische Bewusstsein geholt haben. Es geht dabei ja nicht nur um Aufklärung der nicht-queeren, sondern gerade auch um die Selbstfindung der queeren Schüler*innen. Hier lässt sich verinnerlichte Selbstabwertung schon vermeiden, bevor sie überhaupt entsteht.
Wir sollten auch darauf achten, wo wir uns selbst an Beschämungsmechanismen beteiligen. Ich denke hier beispielsweise an die Schwulen und Lesben, die die bewusst „schamlosen“ Inszenierungen bei CSDs oder anderswo wieder in die Sperrzone enger Schamgrenzen zurückrufen wollen. Oder an queere Menschen, die sich allzu eifrig der moralischen Verurteilung bestimmter Lebensweisen oder sexueller Aktivitäten anschließen.
Auch wenn wir beispielsweise den russischen Staatschef auf Plakaten mit „tuntigem“ Lippenstift der Lächerlichkeit preisgeben oder wenn wir katholische Funktionäre als „Männer in Frauenkleidern“ verspotten, nutzen wir eine im Kern sexistische Form der Beschämung als Waffe. Ob es sinnvoll ist, einen Mechanismus nachzuahmen, der gegen uns selbst eingesetzt wird, halte ich zumindest für diskussionswürdig.
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Diskutieren sollten wir außerdem über eine Scham, die sich nicht aus den bisher genannten Quellen speist, sondern aus unseren selbstgeschaffenen Normen. Durch unsere Subkulturen geistert spätestens seit den 1970er Jahren das hohe Ideal des hundertprozentig offenen schwulen / lesbischen Lebens. Das ist gut, denn dieses Ideal stellt dem schamhaften Verkriechen eine positive Vision gegenüber.
Dieses Ideal entwickelt aber eine Kehrseite, wenn es die Möglichkeit des Scheiterns nicht einbezieht: Ein misslungenes oder ungewöhnlich spätes Coming-Out, das Verschweigen der eigenen Identität in bestimmten Situationen, das Loslassen der Hand des Partners in einer bedrohlichen Situation … Wir bezichtigen einander des Scheiterns, des Versagens, des Verrats, sobald wir dem Ideal der totalen Offenheit nicht gerecht werden: „Pff, die Klemmschwester kriegt es nicht auf die Reihe.“
Dabei gerät mitunter aus dem Blick, dass ein offenes Leben mit realen Gefahren verbunden ist und wir teils einen hohen Preis dafür bezahlen. Die Risiken der Offenheit sind nicht nur eingebildet. Schwule Sichtbarkeit ist nichts, was man „einfach nur tun muss“. Sie ist schwierig und gefährlich. Wenn wir berechtigte Risikoabwägungen und das Scheitern am Ideal regelmäßig als Anlass zur gegenseitigen Beschämung nehmen, dann individualisieren und entpolitisieren wir das Problem. Wir lasten Diskriminierungen als individuelles Scheitern den Einzelnen an, statt sie als strukturelles Problem zu benennen.
Diese Beschämung verhindert ebenfalls den Austausch und die Solidarität. Wenn ein junger Schwuler glaubt, sich schämen zu müssen, weil er seinen Eltern immer noch nicht gesagt hat, dass er schwul ist – obwohl das doch heute angeblich so furchtbar einfach und unbedingt so früh wie möglich notwendig sei –, dann wird es ihm schwerer fallen, mit anderen Schwulen über seine Befürchtungen und Blockaden zu sprechen. Und wenn ein schwuler Erzieher als Verräter an der Bewegung hingestellt wird, weil er nicht das sichere Ende seiner Karriere einleitet, indem er der fundamentalistischen Chefin seinen Freund vorstellt, dann stimmen die Maßstäbe nicht mehr.
Sicher, wir alle tragen eine Verantwortung, mit unserer persönlichen Sichtbarkeit zu einer gesellschaftlichen Veränderung beizutragen. Wir müssen aber aufpassen, es dabei nicht zu einer Schuldumkehr kommen zu lassen, die den Diskriminerungswillen der Außenwelt ausblendet und es so aussehen lässt, als seien wir alle zusammen und jeder Einzelne höchstpersönlich daran schuld, wenn wir diskriminiert werden – wenn wir uns schämen, wenn wir Risiken ausweichen und wenn wir unter dem Druck heterosexistischer Gewalt klein und ängstlich werden.
Reden wir darüber. Und machen wir einander das Sprechen leicht. Ideale sind gut, aber Scheitern ist menschlich.
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Es ist sicher kein Zufall, dass heute der Begriff Diskriminierung so sehr in den Mittelpunkt gerückt ist. Unsere Debatten haben sich in großen Teilen auf die Ebene von Gesetzen, gesellschaftlichen Regeln und Handlungen verschoben, und Diskriminierung beschreibt genau diese Ebene: ungerechtes Handeln, aus einer objektivierten Sicht betrachtet. Diese distanzierte Sichtweise ist richtig und wichtig, bleibt aber naturgemäß oberflächlich. Vergessen wir darüber nicht die anderen Ebenen, vor allem nicht die unserer eigenen Gefühle. Vergessen wir nicht, dass wir Menschen sind, die nicht nur gute Gesetze brauchen, sondern Anerkennung, Selbstbewusstsein, Solidarität und Respekt. Und leugnen wir auch nicht die unangenehmeren Aspekte unserer eigenen Verstrickungen.
Mit dem Bewusstsein für die Scham verschwindet heute, so scheint mir, gleichzeitig das Bewusstsein für die eigentliche Bedeutung ihres Gegenparts, des Stolzes. Immer wieder höre ich vor allem von jungen Schwulen und Lesben die Frage: Warum sollte ich denn stolz auf etwas sein, für das ich nichts kann? Im besten Fall haben die, die so reden, noch nie eine Abwertung erlebt und wirklich keinerlei Scham verinnerlicht. Das wäre wunderbar. Aber es fällt mir schwer, das zu glauben.
Wenn ich richtig liege, ist Scham immer noch ein aktuelles Thema. Dann ist es wichtig, dass wir Verdrängung, Peinlichkeit und Schweigen überwinden. Das bewältigen wir aber nicht allein, sondern nur gemeinsam. Scham verschwindet nicht, indem wir „einfach ganz normal unser Leben leben“ und so tun, als wäre sie nicht da, sondern nur, wenn wir sie erkennen und bearbeiten. Dafür brauchen wir Räume und Gespräche.
Und natürlich das bewährte Gegengift. Es wirkt immer noch.
Ich danke Matthias für Anregungen und Korrekturlesen.
Hier sind auch spontane und kurze Kommentare „aus dem Bauch heraus“ willkommen. Mich interessiert eure Meinung und nicht zuletzt auch die Frage: Was sind eure Gegengifte?
Mein Gegengift ist oftmals Trotz im Sinne von „jetzt erst Recht“. Z.B. indem ich in der Kirche Kerzen für den Mann, den ich liebe anzünde, obwohl mir eine Pastorin aus der Familie sagte, dass Gott uns hasst und ich in der Kirche nichts verloren hätte. Ich warte jedes Mal darauf, dass mir was dabei auf den Kopf fällt oder die Orgel von Geisterhand „Highway to hell“ spielt, wenn ich reinkomme, aber bisher war Gott wohl anderweitig beschäftigt.
Wie immer man das jetzt deutet: Dass Gott einfach nur furchtbar schlecht werfen und gar nicht Orgel spielen kann, schließe ich als Erklärung mal aus.
Fast hätte ich geschrieben, dieser Pastorin solle mal eine*r die Leviten lesen, aber mit denen fängt das ganze Übel ja überhaupt erst an… :-/
Ha ha ha :)
Ich hätte dieser Pastorin gesagt: Dein Gott, der du selber bist, ist wohl am meisten hassenswert.
Scham und Schuld, sag ich auch. Ich kenne viele, die haben sich sehr „gut arrangiert“, kommen klar damit, sind offen … meist zumindest … finden aber andere Schwule, Lesben als zu schwul, zu lesbisch. (Ich denke, in der Transwelt ist das auch Thema, oder?) Lustig ist, ich kenne keinen Hetero, der so denkt. Zu hetero gibt es nicht. Als Kind zu merken, „etwas ist mit mir nicht in Ordnung“, ohne Netz im freien Fall und der Willkür ausgesetzt, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, in der mein inneres Empfinden als unnatürlich gilt, krank, das löst Scham und Schuld aus. Es wird in Gesprächen meist belächelt und negiert. Aber: Das sitzt so tief, man hört es schon nicht mehr wirklich, es ist das Gift, das stumm durch unsere Adern fliesst.
„Es wird in Gesprächen meist belächelt und negiert.“
Falls du hier nochmal reinliest, Christoph, könntest du da mal ein Beispiel schildern?
Hallo fink, ich spreche das ab und wann an, direkt, also sage, wisst ihr, wir sind ja jetzt quasi offen schwul, ich denke aber, dass die meisten noch einen restschaden der verletzungen in sich tragen, die heisst scham. dann kommt, nein ich schäme mich nicht für das was ich bin, frag ich, drückst du dich immer und in jeder situation klar aus? muss nicht jedem sagen, dass ich schwul bin, tut nichts zur sache, heisst es dann. stimmt, sag ich, ok, und wenn z.bsp ein hetero sagt, ich war mit meiner frau in kanada … und du warst mit deinem freund auch dort, sagst du dann, ich war mit meinem partner auch in kanada oder WIR waren auch in kanada, bist du möglichst neutral in den formulierungen? dem ist oft so. warum, frag ich. keine ahnung. ich: schon mal an scham gedacht, hinter der angst versteckt sich scham und schuld.
auch, dass einige von uns sich leider über die zu effiminierten aufregen … oder die übersexten oder … warum? weil ich zwar schwul bin, aber nicht schwul wie der da. der schadet unserem image, heisst es. aha, du hast kein problem mit schwul? warum genierst du dich denn für den anders schwulen da … also ist schwulsein ok, wenn wir uns möglichst hetero benehmen? dein schwulsein ist ok, aber seins nicht? du kannst es drehen wie du willst, er ist schwul, du bist schwul. wenn schwulsein für dich absolut natürlich wäre, dann wäre der anders schwule auch ok. fazit: ich bin schwul, benehme mich aber nicht so, heisst, ich schäme mich.
Danke für die Erläuterungen, Christoph. Mir war nicht ganz klar gewesen, ob du mit denen, die die Scham leugnen, Heteros oder Homos meintest.
Was du beschreibst, habe ich teils auch schon so erlebt. Und es ist ja gar nicht verwunderlich: Wenn man sich schämt, dann schämt man sich auch meistens irgendwie dafür, dass man sich schämt. Und dann redet man eben auch nicht gern darüber oder leugnet es sogar.
Deswegen finde ich es wichtig, dass wir die Scham erstens erkennen, zweitens darüber miteinander reden und drittens auch möglichst viel Empathie füreinander aufbringen, um nicht die Probleme, die wir ja mehr oder weniger alle mit dem „offenen“ Leben haben, auch noch zum Anlass zur gegenseitigen Beschämung zu nehmen.
Eine Frage, die mir dein Kommentar noch einmal aufwirft, ist die, inwieweit sich diffuse Scham (dafür, schwul zu sein) und konkrete Angst (vor negativen Reaktionen) voneinander unterscheiden und trennen lassen…
Angst vor negativen Reaktionen … wer hat die? Der, der das Selbstwertgefühl, die Bestätigung, Gutheissung, Anerkennung aussen sucht? Vermutlich.
Schäme ich mich nicht, dass ich schwul bin, sehe ich das generell nicht als Makel, dann hol ich mir all das intrinsisch. Wenn ich von innen her stark bin, ist es mir dann noch wichtig, wer wie darüber denkt?
Ganz spontan und aus dem Bauch heraus: Ein treffender Artikel. Scham…Auch für mich, als Vertreterin der jüngeren Generation, ist sie noch da, obgleich ich mich als offen lesbisch bezeichne. Die Frage ist natürlich immer, wie offen.
Auch ich wäge ab, wem ich jetzt erzähle, dass ich lesbisch bin, nicht bewusst, aber ich merke es dennoch. Wenn ich vernünftig darüber nachdenke, finde ich das gar nicht so schlimm, wenn ich nun etwa in einem Praktikum zwei Wochen mit jemandem zusammenarbeite, muss ich dem auf die Nase binden, dass ich lesbisch bin? Denn, wie die jeweilige Person reagiert, ist schwer abschätzbar, soll ich jetzt nur um der Offenheit willen riskieren, dass diese Person ablehnend reagiert, ich zwei sehr unangenehme Wochen und vielleicht nachher ein schlechteres Zeugnis habe? Wenn ich von meiner Freundin spreche, sage ich immer meine Freundin, aber um ehrlich zu sein, den Sinn dahinter versteht kein Mensch. Mir ist noch niemand begegnet, der danach sofort wusste, dass ich lesbisch bin. Das ist in vielen Situationen nervig, weil ich mich dann stets so explizit erklären muss, andererseits ist es vielleicht auch gar nicht so unpraktisch…
Und dann schäme ich mich genau für diesen Gedankengang, ich sage mir Mensch, du lebst doch offen, du willst doch lesbische Sichtbarkeit erhöhen, wie sollen die Menschen denn merken, dass Lesben ganz „normale“ Leute sind wie alle anderen auch, wenn du es nicht zeigst? Zudem sagt man doch, heutzutage ist da eh nichts mehr dabei, wenn man lesbisch ist, also warum stellst du dich so an?
Ich schäme mich dann für meine Scham, und das ist in der Tat ein Teufelskreis. Ein Gegengift habe ich noch nicht gefunden.
Generell finde ich es in großen Menschenansammlungen viel leichter, offen zu sein, als wenn ich mit nur wenigen Leuten im direkten Kontakt stehe. In Menschenansammlungen halte ich gerne Händchen oder küsse meine Freundin, aber im direkten persönlichen Kontakt scheue ich direkte Ansagen manchmal. Das zeugt womöglich nicht von sonderlich viel Mut, ist aber eine Tatsache, die ich zunächst einmal akzeptieren lernen will. Dein Artikel hat mir Stoff zum Nachdenken gegeben, auch darüber, woher diese Scham eigentlich kommt, in meinem individuellen Fall jetzt. Das will ich ergründen, noch habe ich es tatsächlich nicht getan ;) Wollte gleich den Moment nach dem Lesen für eine spontane, komplett unreflektierte Antwort nutzen.
Vielen Dank fürs Schreiben :)
Kathi
Danke für deinen offenen Kommentar, Kathi. Ich glaube, du sprichst da vielen von uns aus dem Herzen.
„Generell finde ich es in großen Menschenansammlungen viel leichter, offen zu sein, als wenn ich mit nur wenigen Leuten im direkten Kontakt stehe.“
Mir geht es genau andersherum.
Das mit dem explizit erklären müssen, was mit „Freund*in“ gemeint ist oder auch nicht finde ich auch etwas nervig. Und es geht mir total auf den Sack, dass deswegen mittlerweile die meisten nur noch von Kumpel sprechen und sich wenn sie ausversehen Freund sagen verbessern, das färbt langsam auch auf mich ab. Aber das liegt einfach an unserer etwas unschönen Sprache. Ich finde da die englische Variante sehr gut, wo zwischen „friend“ und „boyfriend/girlfriend“ unterschieden wird.
Zum Thema: Mir war bisher nicht bewusst, dass man dieses vermeidende, sich versteckende Verhalten auf Scham zurückführen kann. Jetzt ist mir das wenigstens bewusst, bisher fand ich mein eigenes Verhalten einfach nur nervig, ohne es klar einordnen zu können. Ich spreche generell immer sehr allgemein, also nicht nur bei dem Thema, um verschiedene Interpretationen zu erlauben. Ich versuche dadurch auch, die Gesprächspartner von sich selbst die „Erkenntnis“ zu erlangen, damit er daraus lernt, dass nicht alles und jeder seinen Vorstellungen entspricht und er seinen Horizont erweitert. (Weil viele sprechen (meist negativ) über verschiedene Menschengruppen ohne es überhaupt in Betracht zu ziehen, dass diese gerade anwesend sein könnten.) Kaum jemand versucht aber überhaupt etwas anderes reinzudeuten, als was er eh schon dachte. Dabei ist das manchmal so auffällig, dass ich mich frage, wie man die Hinweise nicht verstehen kann. Z. B. wenn ich die Sätze auf Teufel komm raus verbiegen oder abbrechen muss, um verräterische Personalpronomen zu verwenden. Die meisten sind offenbar sehr beschränkt.
Respekt! Bin nicht mit allem einverstanden, aber das Wichtige wurde gesagt!
Ein toller Text, der nachdenklich macht…ja reden wir drüber!
Mein Gegengift ist Wut…Wut darüber, dass die Dinge so sind wie sie sind, Wut über meine Scham und damit über mich selbst….
Mal wieder sehr lesens- und nachdenkenswert. Danke!
Hallo Fink,
Erst einmal einen Dank von ganzem Herzen für deine reflektierten, objektiven und niemals oberflächlichen Texte. So schöne, ernste, richtige, traurige habe ich bis jetzt noch nirgendwo sonst gefunden.
Wie gesagt, danke.
Exzellenter Artikel, auch wenn ich natürlich zu einer anderen Subgruppe der Bevölkerung gehöre, die entsprechend mit anderen Vorurteilen zu kämpfen hat.
Da wir seltener für moralisch verwerflich als krank gehalten werden, kostet es manche schon Überwindung, mal bei einem CSD-Infostand oder einem Stammtisch vorbeizuschauen und mit offen asexuellen Menschen gesehen zu werden. „Psst, nicht so laut.“ All das ist nicht zu verstehen ohne die Scham und den ewigen Zweifel, ob die anderen nicht Recht haben und eins nicht vielleicht doch irgendwelche körperlichen oder seelischen Defizite aufweist.
Ich persönlich setzte auch eher auf Wut, aufs Lautsein, als Gegenmittel.
„Auch wenn wir beispielsweise den russischen Staatschef auf Plakaten mit “tuntigem” Lippenstift der Lächerlichkeit preisgeben oder wenn wir katholische Funktionäre als “Männer in Frauenkleidern” verspotten, nutzen wir eine im Kern sexistische Form der Beschämung als Waffe. Ob es sinnvoll ist, einen Mechanismus nachzuahmen, der gegen uns selbst eingesetzt wird, halte ich zumindest für diskussionswürdig.“
Danke, genau das ging mir auch schon durch den Kopf, ich konnte es nur nicht so schön auf den Punkt bringen – geschweige denn, einen solchen Gedanken Begleitpersonen verständlich machen. Mir fehlte das entscheidende Puzzleteil – die gegen uns selbst gerichtete Beschämung als Waffe – um zu erklären, was mich an den Plakaten befremdet.
Danke für eure netten Rückmeldungen.
Wenn ich es richtig sehe, deutet sich Wut als wichtiger Punkt an. Das überrascht mich ein wenig.
Das mit der Wut finde ich schon einleuchtend. Die vielschichtige Beschämung, von der Du schreibst, ist bitteres Unrecht und eine Form von Missbrauch.
Wenn man das erkennt und beginnt, das Ausmaß, das Fortdauern und die tiefgreifenden Folgen dieses Missbrauchs zu sehen, ist es nur natürlich, dass man darüber erstmal wütend wird. Das ist wohl (sage ich als Laie!) der Anfang der Auseinandersetzung damit, der erste Schritt in Richtung Verarbeitung.
Toller Text, finde ich, vielen Dank!
Der Artikel hat mir in gewisser Hinsicht die Augen geöffnet. Als mittzwanziger bin ich zum Glück schon in einer Zeit aufgewachsen in der ich vor allem die Punkte Religion, Familie, Schule und Freunde sowie Ekel anders als Du wahrgenommen habe. Ohne ins Detail zu gehen, im vergleich zu dem was du schreibst, war meine schwule Kindheit „paradiesisch“.
Ich habe (abseits des Internets), zum Glück noch nie offene Homophobie gegen mich persönlich erlebt, trotzdem weiß ich ganz genau was du mit der schwulen Scham meinst, sie begleitet mich seit meinem inneren Coming Out sie war eben auf einmal da, ich weiß auch nicht warum.
Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es den allermeisten von uns so geht.
Wir können aber auch darüber reden ob diese Scham uns nicht auch zu objektiv guten Taten motiviert. Ich bin sicher, viele von uns setzen sich besonders für ihre Familie, für ihre Freunde oder für die „Gesellschaft“ (in Vereinen usw.) ein. Scham bedeutet auch, sich als schlechter als sein Umfeld wahrzunehmen. Dieses Defizit wett machen zu wollen ist auch eine natürliche Gegenreaktion auf Scham.
„ob diese Scham uns nicht auch zu objektiv guten Taten motiviert“
Ein ungewöhnlicher Denkansatz, aber vielleicht ist da wirklich was dran. Vielleicht hat dazu ja noch jemand Ideen.
Das ist jetzt wieder ein etwas anderes Thema, aber ich habe schon die These gehört, dass die relativ hohe Selbstdisziplin schwuler Männer hinsichtlich Safer Sex auch aus einem schwulen Schuldkomplex heraus resultierten könnte.
Ich frag mich ab und zu: Och menno, warum schreibt der Zaunfink eigentlich so selten? Und dann kommt ein Artikel wie dieser und ich weiß wieder, warum.
Danke!
Bei mir wirkt Scham als Gift leider immer noch ziemlich gut. Vielleicht auch deshalb, weil ich in meinem Leben nicht nur eine Menge davon abgekommen habe, sondern mich auch sehr die Wertschätzung meiner Mitmenschen bemühe. Und da in unserer Gesellschaft Diskriminierungen gegenüber LGBTTTIQ*-Menschen immer noch an der Tagesordnung sind, ohne dass eine Welle der Empörung dieser entgegenbrannt, setze ich meine Maske auf und halte manchmal einfach den Mund, auch wenn ich im Inneren koche. Weil es einfach zuviel Kraft kostet, wieder und wieder alle gegen die Wände von Vorurteilen und Unwissenheit anzurennen. Weil es ermüdet, wenn ein bestimmtes Umfeld nicht einmal in Betracht zieht, man könnte ein anderer Mensch als ein heteronormierter sein. Und weil ich mir deshalb eben nicht sicher bin, ob ich nicht die Wertschätzung wieder verliere, wenn ich mein ganzes Wesen offenbare. Ja, Scham wirkt noch ziemlich gut bei mir.
Wenn dann Mitmenschen in ihrer absoluten Ahnungslosigkeit davon schwätzen, unsere Gesellschaft bräuchte keine Aufklärung auf diesem Gebiet mehr, dann wird mein Schweigen noch tiefer.
Mein Gegengift sind die Menschen, die mir genug Mut gemacht haben, meine Maske in ihrem Beisein abzunehmen. Weil sie begriffen haben, dass Liebe eben Liebe ist. Und es in der Welt davon viel zu wenig gibt. Es gibt leider nicht viele von ihnen, aber sie sind ein Segen und ein Geschenk. Und zum Glück nimmt ihre Zahl sehr langsam, aber stetig zu.
Lieber Kollege,
ich unterstreiche alldiesdoppelt und dreifach….
Vor bereits mehr als 5 Jahren versuchte ich unter dem Titel „Scham und Vernichtung“ Ähnliches zu publizieren, aber die Redaktionen wollten davon nichts wissen.- Wie tief internalisiert aber“Scham“ funktioniert,immer noch und immer wieder ,merken wir daran, auf welch fruchtbaren Boden die Aktionen und Vergiftungen von Gabriele Kuby, Beatrix von STorch oder Hedwig von Beverfoerde und anderen treffen.
Wie gefährlich diese neuen „Schamhaftigkeiten“, die einhergehen mit politischen Beschuldigungen sind, wird zumeist unterschätzt; ja sie werden sogar noch ganz bewußt befördert von Aktionen und Giftspritzereien solcher Dunkelgestalten wie David Berger…
Danke, ein toller Beitrag!
Danke für den fein beobachteten und präzise beschriebenen Mechanismus, der zur Selbstreflexion anregt. Die Scham wirkt übrigens auch ganz häufig beim Thema HIV-Infektion, wie ich aus unzähligen Beratungsgesprächen erfahre…
Danke, dass du diesen wichtigen Punkt ergänzt, Manfred.
Und vermutlich beobachtest du als Berater auch, dass die Scham hier nicht nur aus der Gesamtgesellschaft, sondern insbesondere auch aus der Community selbst stammt.
Gerade beim Thema HIV können wir ja leider sehr oft beobachten, wie bereitwillig auch viele Schwule mit moralisierenden Abwertungen um sich hauen (z.B. regelmäßig beim Thema Blutspenden). Und ja, Beschämungen nehmen da eine zentrale Funktion ein. Man darf sicher vermuten, dass da schwuler Selbsthass eine Rolle spielt: Indem man anderen eine irgendwie allzu ungezügelte, unmoralische Sexualität vorwirft (mit denen sie sich dann angeblich für eine „gerechtfertigte“ HIV-Infektion qualifizieren), kann man ja so prima die eigenen Schuldkomplexe abwehren.
Hier die guten Schwulen, da die bösen – eine leider sehr verbreitete Denkweise.
Die Amerikanerin Brenée Brown ist eine Expertin auf dem Gebiet der Scham und Schuld. Lohnt sich. Hier ein Link. Gibt noch anderes von ihr auf youtube.
Sehr klug und bewegend. Und ich sammle hier ein weiteres Gegengift gegen Scham: Empathie.
Vielen Dank für den Hinweis, Christoph!
Lieber Zaunfink,
wieder mal ein sehr lesenswerter Artikel, der mir aus dem Herzen spricht. Ich habe selbst vorgehabt, demnächst einen Blogpost zum Thema ‚Gay/Queer Shaming‘ zu schreiben, aber du hast mir die Arbeit ja nun abgenommen. Besten Dank dafür!
Im Grunde kann ich auch nicht mehr viel zum Thema beitragen. Ein Aspekt, der mir noch einfällt ist, dass mit dem Beschämen ein Absprechen von Anerkennung verbunden ist. Da wir aber (nicht nur als queere Menschen) in der Regel nach Anerkennung durch andere streben – sei es nun unsere Familie, unsere Schulfreund_innen, unsere Arbeitskolleg_innen, die Gesellschaft als Ganze oder eine religiöse/weltanschauliche Gemeinschaft – dient Beschämung auch als Machtinstrument.
Indem uns andere ihre Anerkennung verweigern, stoßen sie uns quasi mit der Nase darauf, wie abhängig wir eben von dieser sind. Dadurch werden Hierarchien geschaffen und fortgeschrieben. Das ganze hat in meinen Augen also viel mit – unbewussten (?) – Machtspielen zu tun. Das Umwandeln von Fremd- in Selbstzwänge ist somit auch das Verinnerlichen dieser Hierarchien.
Zu deiner Frage bzgl. Gegengift: Die entscheidende Grundlage scheint mir, dass wir uns zuerst einmal klarmachen, was hier mit uns geschieht. Dass wir all die Beschämungserfahrungen durch andere – aber auch durch uns selbst – benennen und erkennen lernen, und diese nicht als Ausnahme oder Lappalie abtun. Dass wir anfangen nach den Gründen zu fragen, anstatt sie als unveränderbare Tatsache zu akzeptieren. Beschämung wirkt vermutlich effektiver, wenn sie erst gar nicht als solche entlarvt wird. Artikel wie dieser hier leisten dabei einen ganz entscheidenden Beitrag.
Auch ist es wichtig, dass wir uns erlauben, nicht nur wütend, sondern stinksauer zu sein. Dass wir uns nicht einreden lassen, es bestünde kein Grund dafür. Wie schon in den Kommentaren vor mir angemerkt wurde, ist Wut ein zentraler Antrieb für Veränderungen. Genau dieses ‚Jetzt erst recht!‘ ist es, was mich stets aufs Neue empowert, was mich die Hand meines Partners in der Öffentlichkeit halten lässt, trotz der blöden Sprüche und Blicke. Ohne Wut wäre ich heute sicher nicht an dem Punkt, an dem ich mich befinde.
Gut, dass du den Aspekt der Hierarchien betonst, Charlie, das ist ein ganz wichtiger Punkt bei der ganzen Sache.
Natürlich hätte es mich wahnsinnig interessiert, wie dein eigener Artikel zum Thema ausgesehen hätte…
Du sprichst von „shaming“, und das führt mir vor Augen, dass ich natürlich nicht der Einzige bin, der sich eine Wiederaufnahme der Schamdiskussion wünscht. Fat shaming, slut shaming – das wird ja alles aktuell diskutiert. Weshalb das in Form eines modischen Anglizismus‘ geschehen muss, der auch nichts anderes meint als „Beschämung“, ist mir allerdings nicht ganz klar. Okay, es klingt hip und cool, und wer hip und cool ist hat natürlich kein persönliches Problem mit Scham, oder? ;-)
Ja, du hast wohl recht. Es muss keinesfalls in Form modischer Anglizismen geschehen. Vielleicht ist ein deutscher Begriff wie Beschämung/Scham wirklich hilfreicher, weil er sich nicht hinter einer Fremdsprache versteckt bzw. implizit das Problem ins Ausland zu verlagern scheint. Andererseits können solche englischen Begriffe vielleicht auch wieder sinnvoll sein, wenn man mit ihnen an die Debatten und Auseinandersetzungen zum Thema im (englischsprachigen) Ausland anschließt und alle wissen, dass damit dasselbe Phänomen beschrieben wird. Und ich habe schon den Eindruck, dass der Diskurs zum Thema Shaming/Beschämung z.B. in den USA schon wesentlich weiter fortgeschritten ist. Möglicherweise kommt es auf den jeweiligen Kontext bzw. wen man* wann durch welche Texte erreichen möchte.
Bin gerade eher zufällig auf ein Projekt des norwegischen Künstlers Trygve Skogrand gestoßen, in dem er sich mit Homosexualität und Scham beschäftigt. Ich verlinke es einfach mal:
http://www.trygveskogrand.com/theatre-of-shame/theatre-of-shame.html
Ich finde die Diskussion ungeheuer spannend und auch bestürzend wie präsent das Thema Scham bei allen hier ist (mir einschließlich). Allein die Auseinandersetzung mit der Homophobie anderer oder auch nur dezent abwertenden Reaktionen ist eine Form des Missbrauches, wie ich es oben schon einmal gelesen habe. Jedes Augenrunzeln und jede abwertende Bemerkung trifft uns mitten in die Seele. Offenbar ist es so, dass dieser Bereich der Seele mit dem Outing schutzlos ausgeliefert wird. Ich frage mich, warum das so ist.
Bei anderen Themen werde ich durch abwertende Bemerkungen nicht so berührt und fühle mich nicht so „angefasst“. Da würde ich mir selbst schon mal gern auf die Spur kommen. Plötzlich ist es mit dem Selbstbewußtsein an dieser Stelle vorbei. Vielleicht deshalb auch die Wut…letztlich Wut auf mein eigenes Unvermögen mich hinreichend zu schützen.
„Bei anderen Themen werde ich durch abwertende Bemerkungen nicht so berührt und fühle mich nicht so “angefasst”.“
Ich kann das zunächst mal nur für mich beantworten. Für mich war es die wohl bitterste und verstörendste Erfahrung meiner Jugend, dass ausgerechnet das, was ich selbst gerade als etwas ungeheuer Wunderbares, Beglückendes und Wichtiges zu erleben begann, nämlich Verliebtheit, Liebe und Sexualität, von Anderen voller Aggression in den Dreck gezogen wurde. Es ging da nicht um irgendeine nebensächliche Äußerlichkeit, sondern um das Schwerkraftzentrum meines Herzens. Wenn das nicht stimmen sollte, dann würde überhaupt nichts in meinem Leben jemals stimmen. Und wenn ich mich dafür schämen und das unsichtbar machen sollte, dann würde es niemals Glück für mich geben. Das traf unbeschreiblich tief.
So eine Erfahrung sollte eigentlich niemand machen müssen.
Es tut mir sehr leid, dass Du das so erleben musstest. Ich glaube uns verbinden alle ähnliche Geschichten. Und Ich finde auch, dass es sehr, sehr schade ist, dass solche Erfahrungen zum Erleben bei einem coming out zu gehören scheinen. Und je jünger es einen erwischt um so traumatisierend und schlimmer ist es.
Das ist unglaublich eindrücklich beschrieben.
Hallo Laura,
die Frage stelle ich mir auch. Warum verletzt uns die Abwertung an dieser Stelle so stark? Vielleicht ist es ein wunder Punkt, weil die Verletzungen so tief sitzen und die Wunde nie ganz verheilen kann. Vielleicht sind damit nicht nur die Schmerzen durch die Wunde selbst verbunden, sondern auch die Erfahrung, dass andere diese Verletzungen gar nicht als solche anerkennen, dass sie deshalb keine Notwendigkeit sehen, unsere Schmerzen zu lindern. Weil sie es als Schwäche sehen, wenn wir darauf hinweisen, dass es uns wehtut. Weil wir selbst merken, wie wir dieses Denken verinnerlicht haben, und wie ohnmächtig, nackt und ausgeliefert wir uns dadurch fühlen. Weil Schwäche etwas ist, dass wir am besten gar nicht empfinden- oder zumindest unter keinen Umständen zeigen dürfen. Dadurch sind wir nicht nur gezwungen, die Schmerzen zu ertragen, sondern müssen sie unter großem emotionalen Aufwand auch noch unsichtbar machen. Vielleicht steckt hinter der Wut auf sich selbst – genau wie du schreibst – das Erkennen, dass nicht nur andere, sondern gerade auch wir selbst uns dadurch Gewalt antun bzw. uns davor nicht schützen können.
Wie immer schreibst Du mir aus dem Herzen lieber Charlie! Besonders finde ich hast Du Recht, wenn Du schreibst, dass man auch noch gezwungen ist, den Schmerz unsichtbar zu machen. Der Satz beschäftigt mich noch….
Lieber Zaunfink,
ein starker Artikel! Eins meiner Gegengifte (neben Wut, Selbstachtung und und einem, wie auch immer gearteten Gottvertrauen) heißt: Trauer. (Und wenn ich die Hintergrundfarbe deines Blogs sehe, kannst Du mich vielleicht verstehen). Trauer darüber, dass die Zustände (noch) so sind, wie sie sind und das meine Möglichkeiten, sie zu ändern, begrenzt bleiben. Dies Gefühl hilft mir, bei mir zu bleiben und die Not, aus der andere glauben, sich über Homosexuelle erheben zu müssen oder zu können, und die sie plagt, genauer zu erkennen. Der eigenen Angst und Scham nicht auszuweichen, lässt einen auch die Angst und Scham (Phobie!) der anderen erkennen, und das führt – aus dem Bauch heraus geschrieben – letzlich zu einem inneren Wachstum, einer größeren Freiheit, Gelassenheit und Einsicht in das mir Mögliche, um die Zustände – mit sanfter Gewalt – doch ein Stück zu bewegen. Auf lange Sicht wird Homosexualität sicher als eine naturwissenschaftlich greifbare Realität verstanden und akzeptiert werden können. Leider hinkt die Kultur, wie so oft, hinter dieser Einsicht weit hinterher.
Ja, Lars, das mit der Trauer kann ich verstehen. (Der schwarze Bloghintergrund wird sich mit dem nächsten Artikel übrigens wieder verändern.)
Im Medizinschrank mit den Gegengiften, die wir hier gesammelt haben, stehen nun also Trotz, Lautsein, unterstützende Freundschaften, Empathie miteinander, das Analysieren der Situation, Empowerment, Trauer und vor allem Wut.
Ich denke, wir sollten im Auge behalten, dass auch die Gegner*innen unserer Menschenwürde dies oft wissen und bewusst versuchen, uns den Zugriff zu diesen Gegengiften zu nehmen. Die Bildungsplangegner*innen beispielsweise versuchen ja sehr gezielt, eine sachliche Analyse zu verhindern, indem sie Lügen streuen und Neusprech in die Debatten schleusen. Unser „Lautsein“ wird immer wieder von verschiedenen Seiten (auch in unseren eigenen Reihen) als angeblich unpassende „Schrillheit“ verunglimpft. Und unsere verständliche und notwendige Wut ist schnell als Überreaktion abgewertet.
Vielleicht passen Wut und Trauer auf den ersten Blick nicht gut zusammen, aber ich denke, wenn sie einander abwechseln, dann klappt es doch: Trauer über das, was schon mit uns passiert und nicht rückgängig zu machen ist und darüber, dass wir die ganzen Verletzungen nicht mit einem Fingerschnippen verschwinden lassen können; und Wut, die uns wünschen lässt, es doch zu können und die uns die nötige Energie liefert, es zumindest immer weiter zu versuchen.
Will Young ist ganz deiner Meinung: http://metro.co.uk/2016/02/08/will-young-became-addicted-to-booze-and-porn-to-cope-with-shame-of-sexuality-5668978/
Ha, das Gleiche hatte ich gerade auf pinknews gelesen und überlegt, ob ich das hier verlinken sollte. Jetzt bist du mir zuvorgekommen. Danke! :-)
Hallo Fink,
vielen Dank für den tollen Artikel. Wer sich schon immer mal gefragt hat, warum er sich unwohl fühlt schwul zu sein, bekommt durch diesen Beitrag von Dir eine Antwort – mir ging zumindest ein Licht auf.
Zum Thema Gegengift: Ich denke, ein richtig wirkungsvolles habe ich persönlich zur Zeit nicht. Zu lange, und zu oft wurde mir von den von Dir erwähnten Stellen die Schamhaftigkeit des Schwulseins ins Gehirn geprügelt. Ich denke, daß ist so ähnlich wie bei einem Welpen, den man darauf abgerichet hat, Katzen zu jagen. Laut Aussagen von einem Hundetrainer den ich kenne bekommt man sowas aus dem Hundegehirn auch nicht mehr ganz raus. Ich weiß der Vergleich hinkt etwas, aber ich finde es irgendwie passend, zumindest in Bezug auf meine Person.
Ich denke, eine gute Alternative für mich ist es, eine gewisse Lethargie an den Tag zu legen, wenn es um dieses Thema geht. Ein kluger Mensch hat einmal gesagt, man soll sich nicht über Dinge aufregen, die man nicht ändern kann. Und ein Blick in die Nachrichten zeigt mir, daß es so viele unglaublich engstirnige Menschen gibt, das es für mich persönlich meist keinen Sinn macht zu versuchen, allen Menschen bei zu bringen, was es bedeutet, schwul zu sein.
Ich weiß, ist keine Lösung, macht es aber einfacher.
Grüße,
der Andi
„Es kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass die dauerhaften queerfeindlichen Aggressionen von außen in unseren Gefühlshaushalt dringen und sich dort fester einnisten, als uns lieb ist.“
Wie gut ich dich verstehe. Ich kenne das auch und zwar so ziemlich baugleich von denselben „Institutionen“. Dass man eine „Rabenmutter“ sei, ein „unweibliches Miststück“, deren Kinder ganz gewiss auf die schiefe Bahn kommen, psychische Wracks werden oder gar Leute umbringen oder so, wenn man sich nicht für die Familie aufopfert, ist etwas, was ich in meinem Leben so oft gehört habe, dass ich es internalisiert habe. Man kämpft schließlich auch gegen die Dämonen in sich selbst, die einem von allen Seiten (wie Du sagst, Religion, Familie, gesellschaftliches Umfeld) eingepflanzt wurden.
Ein ganz außergewöhnlicher Artkel, der sich geistreich abhebt von vielem, was man im Umfeld von „queer politics“ liest. Er beschreibt mein Lebensgefühl (41 J.) exakt und analysiert die Ursachen sehr interessant. Mein „Rezept“ ist genau das Beschriebene, ich verstumme und entwickle Wunschvorstellungen von Unsichtbarkeit. Letztlich habe ich für mich akzeptiert, dass die homosexuelle Existenz defizitär ist, das macht die Angriffe erträglicher, weil sie jenseits aggressiver Form in der Sache berechtigt ist. Nicht schön, aber was soll’s.
Hallo Fataliso,
ich glaube nicht, dass ein homofeindlicher Angriff berechtigt sein kann, auch dann nicht, wenn er nicht so offen aggressiv daherkommt. Für die Abwertung von Homosexualität habe ich nämlich noch nie ein stichhaltiges Argument gehört, und ich finde, dass sie eigentlich immer ein aggressiver Akt ist.
Du beschreibst hier das, was leider viele von uns tun. Ich habe, glaube ich, deutlich genug gemacht, dass ich mich selbst nicht hundertprozentig von diesem Mechanismus freisprechen kann. Allerdings ist es immer noch ein Unterschied, ob man Abwertung unbewusst verinnerlicht oder, wie es bei dir anzuklingen scheint, auch noch ganz bewusst hinnimmt. Ich halte es, mit Verlaub, nicht für eine wirklich glückliche Entscheidung, die Abwertung auch noch bewusst zu verinnerlichen, um Angriffe nicht mehr als aggressiv erleben zu müssen. Aber vielleicht habe ich dich da auch missverstanden.
Nach dieser Logik ist jeder Mensch defizitär. Denn was ist der Maßstab des Defizits? Weniger eine Norm, sondern ein ein Ideal. Eine Norm nicht zu erfüllen, ist kein Drama, wenn ein Ideal der Maßstab des Menschseins wird, dann wird man nie glücklich.. Ein Kind, das mit sechs Jahren ein Elternteil verliert, wäre defizitär, weil ihm ein Elternteil „fehlt“, ein behinderter Mensch, der eine bestimmte körperliche oder geistige Funktion nicht vorweisen kann, ebenso, ein sympathischer Schüler, der „nur“ den Haptschulabschluss schafft, aber auch der Überbegabte, weil ihm das „Normalsein“ fehlt. Selbst wenn ich alle Normen meiner Gesellschaft und gar Religion erfülle, findet sich eine andere, die genau diese Normerfüllung als defizitär wertet. Es gibt immer jemanden, der mit dem grundsätzlich Defizitären des Menschseins nicht umgehen kann, es nicht erträgt und aggressiv auf andere abzuwälzen sucht und was zu meckern hat. Auch das ist ein menschliches Defizit …
Was macht die homosexuelle Existenz denn so „defizitär“? Dass sie nicht „gottgewollt“ ist? Dass sie (ohne Umwege) keine Kinder hervorbringen kann? Ich habe bis heute noch keine Erklärung gehört, die mich nicht entweder mit den Augen rollen oder laut lachen ließ.
Allerdings ist das stets ein bitteres Lachen, denn natürlich bin auch ich von der Ablehnung (sichtbarer) homosexueller Liebe betroffen. Auch ich habe Angst, beim öffentlichen Händchenhalten mit dem Partner angeglotzt, beschimpft oder sogar tätlich angegangen zu werden. Meine Hemmungen in dieser Sache waren sogar mit ein Grund, dass sich mein letzter Freund von mir getrennt hat, da sie ihm das Gefühl gaben, ich würde nicht zu ihm (und uns) stehen. Erst allmählich entwickle ich sozusagen Kampfgeist und lerne, meine Scheu zu überwinden.
Eines muss ich aber klarstellen: Ich habe nie, wirklich nie, auch nur im Ansatz geglaubt, dass diese Kleingeister, die uns Homos am liebsten unsichtbar machen würden, irgendwie recht hätten. Oder dass es eine vernünftigen Grund für ihre Haltung gebe. Ich habe es immer als schreiendes Unrecht empfunden, Gewalt fürchten zu müssen, wenn ich mich wie meine heterosexuellen Freunde mit meinem Partner in der Öffentlichkeit zeige. Dass ich sondieren muss, wer da gerade um mich rumsteht und ob diejenigen so aussehen, als wären sie imstande, auf mich loszugehen, wenn ich meinen Partner umarme oder küsse.
Dieses Unrecht zu negieren, indem man ihm innerlich stattgibt, halte ich für sehr gefährlich.
Danke für deinen Kommentar, TwoAces!
Der Zaunfink – Eine Empfehlung – — hope & glory —
Du bist kein Feminist, weil Du Feminist bist … wie antifeministische Diskussionsstrategien gegen Männer funktionieren | gleichheitunddifferenz
Auf einem schwulen Datingportal (!) muss man sich verinnerlichte Ablehnung sogar in Form von Werbebannern vorführen lassen. Gemeint sind die Banner der Pornoseite „str8 to gay“. Die Sprüche lauten „stop putting moves on me, I’m straight“ oder „I have a GF you creepy perv!“ – gezeigt werden jeweils Situationen, in der zunächst eine Annäherung stattfindet, der eine Mann den anderen Mann dann aber angeekelt wegstößt.
Wir haben es hier mit einem Geschäftsmodell zu tun, das unseren Selbsthass ausbeutet, nährt und verstärkt. Proteste von Usern, denen das gegen den Strich geht, scheinen sich in Grenzen zu halten. Die Banner werden seit Monaten geschaltet. Es muss also einen Markt geben, auf dem Schwule Geld dafür bezahlen, sich homophob beleidigen zu lassen und dabei sexuelle Lust zu empfinden.
Ui, das hatte ich bisher noch nicht gehört. Heteros in Schwulenpornos kannte ich nur dergestalt, dass da (angebliche) Heteros zu schwulem Sex gedrängt werden. Was du hier erwähnst, erinnert mich ein bisschen (ich hoffe, der Sprung ist nicht zu gewagt) an die Nazipornos, die einige Zeit lang in Israel wohl recht beliebt waren. Eindeutig ist das eine Vermarktung von Selbsthass. Ob es ihn wirklich verstärkt, weiß ich allerdings nicht so recht. Vielleicht ist es eine Weise, wie manche ihn psychologisch verarbeiten?
Die Pornos selbst habe ich nicht angeschaut, ich kenne nur die Banner. Und in denen werden Schwule wie beschrieben beschimpft und weggestoßen. Wie die Handlung im eigentlichen Porno sich dann entwickelt, bleibt Spekulation.
Ich stimme Dir aber zu, Verarbeitung mag auch ein Aspekt sein.
Lieber Fink,
seit geraumer Zeit folge ich mit unregelmäßigem, wenngleich sehr lebhaftem Interesse deinen veröffentlichten Artikeln. Fast immer kann ich mich ohne Wenn und Aber mit den kognitiv und argumentativ wohlgewählten Worten eindeutig identifizieren. Auch dein neuster Streich ließ mich an so manche schmerzhafte Erfahrung in meiner frühsten Jugend zurückdenken. Noch bevor ich als klassisches Landei (Jahrgang 1971) überhaupt vernünftig einordnen konnte, wer oder was ich bin und wohin mich die Selbstfindungsreise irgendwann einmal führen sollte, trat ich voller Beigeisterung mit zarten sieben Lenzen in den örtlichen Tanzclub ein und zeigte schnell großes Talent. Doch obwohl ich ungeheuren Spaß an diesem Sport hatte, begann ich mich unwillkürlich bald dafür zu schämen, einem vermeintlich „weibischen“ Sport nachzugehen. Noch wusste ich nicht mal genau, was die Bezeichnung „schwul“ oder „homosexuell“ überhaupt bedeutete, da wurden mir eben solche Begrifflichkeiten wie „Schwuchtel“, „175er“ usw. besonders im Umfeld meiner Schule, erzkatolischen Familie etc. um die Ohren geschleudert – was mich zunehmend verunsichert hat.
Damals glaubte ich, dass mir der Erfolg im Tanzsport Recht gab, denn der sollte sich bald einstellen. Dadurch versuchte ich, zu kompensieren, wenn regelmäßig über meine Siege und Erfolge in der örtlichen Presse zu lesen war. Allerdings hat das wiedrum die Neider auf den Plan gerufen: „Ne blöde Schwuchtel, die auch noch Erfolg hat …“ – das war unerhört!
Aber ich habe gelernt, dass es häufig müßig war und ist, mit solchen Menschen vernünftig reden zu wollen, und bin aus vermeintlichem Selbstschutz dazu übergegangen, jegliche Diskriminierung oder Gehässigkeit auch nach meinem Coming-Out weitestgehend an mir abprallen zu lassen; ich habe mir ein dickes Fell gesucht, das bis heute das Gefühl der Scham bisweilen nur unzureichend überdeckt. Und auch ich ärgere mich über die Scham für die Scham und insbesondere darüber, wie sehr mich dieses Gefühl von damals bis heute durchgehend prägt – auch in meinem Berufsleben. Ein latentes Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit, gegen das ich täglich ankämpfe.
Es hat mir gut getan zu lesen, dass ich mit diesem Gefühl nicht allein bin, deshalb nochmals danke für deinen Text!
Ich bin dankbar und finde es sehr wichtig, dass dieser Blog sich auch als ein respektvoller Raum etabliert, in dem wir persönliche, auch schmerzliche Erfahrungen mit anderen teilen können. Danke, Fredi, dass du mit deinem offenen Kommentar dazu beiträgst!
Zum Thema „weibisches“ Verhalten, das mich ja immer wieder umtreibt, wird es übrigens bald was Neues geben; dazu passt deine Erfahrung mit dem Tanzen sehr gut.
Scham, Schuld und Transition | ButchBlog
Das schwule Auge! | Thommens Senf online – auch 2018
Zitat: „“Warum sollte ich denn stolz auf etwas sein, für das ich nichts kann? Im besten Fall haben die, die so reden, noch nie eine Abwertung erlebt und wirklich keinerlei Scham verinnerlicht. Das wäre wunderbar. Aber es fällt mir schwer, das zu glauben.““
Ich rede so und habe ’ne Menge Peinlichkeiten und Demütigungen erleben müssen, aufgrund meines Äußeren und meiner niederen Herkunft. Keinesfalls wegen meiner Sexualität, die im Übrigen meiner Definition nach bei mir ausblieb. Ich bezeichne mich also vor mir selbst teilweise als asexuell, direkter und richtiger fühlt sich aber anti-sexuell an. An Geschlechtsverkehr kann ich eben viel animalisches, aber nichts dem Menschen schmeichelndes finden.
Würde ich mich öffendlich dazu bekennen, würden mich viele einweisen wollen, weil sie zu stutzig sind und dadurch uneinsichtig. Es ist mir unmöglich mit ihnen auf gleicher Welle zu schwimmen.
Ich kann nichts für meine Sexualität oder für mein Äußeres oder meine niedere Herkunft oder meine Weltsicht. Nichts konnte ich für meine Erzeuger oder deren Verwandtschaft. Habe ich bewusst entschieden als wer und unter wem, was und wie und wann und wo ich existieren will? Zynischerweise darf ich entscheiden wer mir beim Sterben hilft und was verwendet wird und wie es abläuft und an welchem Tage und wo – an welchen Ort…
Tja Du bist gar nicht weiter auf die Frage eingegangen von diesen Lesben und Schwulen. Ich sage sie haben absolut recht, wenn sie meinen, es schicke sich nicht an, auf etwas stolz zu sein an das man keine bewusst-willentliche Kraft anzutragen hatte, was sich niemals ändern wird – und füge noch hinzu, dass man sich genau darum, in eben der gleichen Weise nicht für den miserablen Ausgang zu schämen oder sogar zu entschuldigen brauch.
Wir zeugten uns nicht selbst. Die Schuld und Verantwortung, wenn es nicht so läuft in unserem Leben, liegt nicht allein an uns. Und nicht allein an unseren Erzeugern.
Oft liegt die Schuld und Verantwortung an Dingen die mehr oder weniger der Willkür unterworfen waren und ihr unterworfen sind. Da wäre die Natur, der Planet, die Sonne, das Universum. Abstraktes Zeug, das die schmerzlichen Tränen nicht trocknen wird und welches nicht staatlich für seine Willkür bestraft werden kann.
Scheiße war’s also.
sehr ausführlicher und interessanter Bericht, der zum nachdenken und diskutieren anregt!
Danke, Matthias!
„Schwule sind für diese Leute nichts weiter als wandelnde Kopulationen“
Wenn die Fetisch-Fans auf den CSDs ihre Hundemasken o.ä. vorführen, ist das ja wohl unvermeidlich.
Vorurteile sind nie unvermeidlich, Michael, und sie sind nie die Schuld der Opfer dieser Vorurteile. Ich bitte darum, die Diskussion des aktuellen Artikels „Fetisch beim CSD“ dort weiterzuführen.
Leben als Regenbogenfamilie – Teil 1: Fragen nach der Herkunft – goldtopf