Was brauchen wir, damit es uns besser geht? Regelmäßige Leser*innen meines bescheidenen Weltverbesserungs-Blögchens wissen, dass ich die Ansicht mit einiger Skepsis betrachte, die rechtliche Gleichstellung sei der homopolitische Stein der Weisen, der ganz allein alles Blei der Queerphobie auf magische Weise in das Gold der Akzeptanz verwandeln werde. Pustekuchen, wenn das mit der Emanzipation was werden soll, dann müssen wir schon verschiedene Äcker pflügen. Neben gesellschaftlicher Aufklärung, der Pflege queerer Schutzräume und der grundsätzlichen Infragestellung von Machtstrukturen halte ich es für zentral, dass wir darüber nachdenken, was die heteronormative Gesellschaft mit uns allen anstellt. Jeder Mensch muss in der, gegen die und mit der Gesellschaft, in der er lebt, eigene Wege finden. In unserem Fall heißt das: Wir müssen uns klarmachen, wo Heteronormativität uns selbst prägt, was das für uns persönlich und politisch bedeutet, und was wir mit dieser Situation anstellen wollen. Ich bin davon überzeugt, dass wir nur aus diesem Verständnis heraus persönliche und politische Strategien entwickeln können, die wirksam und nachhaltig sind.
Ein herausragendes Gedankenpaket zu diesem Thema liefert nun der Sammelband „Selbsthass und Emanzipation. Das Andere in der heterosexuellen Normalität“, den Patsy l‘Amour laLove kürzlich im Querverlag herausgegeben hat. (Ich bewerbe den hier nicht nur, weil ich selbst einen Text beisteuern durfte. Aber ein bisschen stolz bin ich natürlich doch.)
Patsy ist langjährige Expertin für schwulen Selbsthass, und so ist ihre Einführung ins Thema umfassend, prägnant und provokant zugleich. Ich hatte ja beispielsweise in meinem Blogartikel über schwule Scham angedeutet, dass das so hart klingende Wort „Selbsthass“ uns dazu verleiten kann, ihn nicht mit uns persönlich in Verbindung zu bringen. Patsy dagegen argumentiert, weshalb gerade dieser scharfe Begriff zutreffend ist und auch dann mit uns zu tun hat, wenn wir uns betreffs unserer jeweiligen Identität doch eigentlich eher entspannt fühlen.
Beeindruckend ist vor allem die thematische Spannweite der Textsammlung, die Patsy hier zusammengetragen hat. Das reicht von psychoanalytischen bis zu kapitalismuskritischen Ansätzen, und von der Frage, ob es auch heterosexuellen Selbsthass geben kann, über eine kritische Sicht auf Gayromeo als nur vermeintlich befreiendes Medium bis hin zu unterschiedlichen bewegungsgeschichtlichen Rückblenden und einem detailreichen Überblick über den Zusammenhang von minority stress und Gesundheit. Eher theoretische Analysen mischen sich mit sehr persönlichen Perspektiven und Erzählungen; teils wird beides miteinander in erhellender Weise verbunden. Von mir selbst ist ein dezent surrealistisch angehauchter Text zum Thema „Fummel“ dabei, in dem ich letzteres ebenfalls versuche.
Besonders angenehm fällt mir auf, dass sich die Sammlung nicht auf schwule Perspektiven beschränkt, sondern dass jeweils mehrere lesbische und trans Blickwinkel einfließen, die hier einmal nicht nur Alibi sind. Als jemand, der die queer theory mit einiger Sympathie betrachtet, habe ich beispielsweise die erfreulich sachliche Kritik von Till Amelung an der Transfeindlichkeit innerhalb queer-theoretischer Perspektiven und queer-politischer Räume mit großem Gewinn gelesen. Die Zusammenschau aller Beiträge hat mich in dem Bemühen, die Eigenarten, Unterschiede und Gemeinsamkeiten schwuler, lesbischer und trans Perspektiven zu verstehen, wieder ein Stück vorangebracht.
Insgesamt liegt hier eine Sammlung vor, aus der auch Menschen, die zum Thema Selbsthass schon alles zu wissen glauben, viele überraschende neue Erkenntnisse und Anregungen mitnehmen werden. Und in jede Literaturliste zum Thema „Queeres Basiswissen“ gehört dieser Band ab jetzt hinein.
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Veranstaltungshinweis: Morgen (Do, 22. Sept.) findet ab 19 Uhr im Berliner Schwulen Museum* eine Buchvorstellung mit Diskussion statt. Fünf der Autor_innen werden anwesend sein, außerdem werden die eigens für diesen Band erstellten Fotografien von Dragan Simicevic & Rahada ausgestellt. Der Eintritt ist frei.
Weitere Termine siehe unten.
Lieben Dank für den Tipp! Gefiederte Grüße von der Nordsee :)
Wirst sicher viele Anregungen rauspicken, lieber Kollege! :-)
Es gibt noch weitere Buchvorstellungs-Termine mit Patsy l’Amour laLove:
20.10.2016, Leipzig, RosaLinde
24.10.2016, Göttingen, LesBiSchwule KULTURTAGE
27.10.2016, Berlin, 20.30 Uhr, Prinz Eisenherz Buchladen
mit Elsa laDiva (Elmar Kraushaar) und seiner Neuerscheinung „Störenfried“
01.11.2016, Stuttgart, 18 Uhr, Weissenburg Zentrum
02.11.2016, Tübingen, 20 Uhr, Café Achtbar im Frauenprojektehaus
09.11.2016, Bonn, 18 Uhr, Schwulenreferat der Universität Bonn
15.11.2016, Mainz, 18 Uhr, Schwulenreferat der Universität Mainz
28.11.2016, Marburg, 20 Uhr, Autonomes Schwulenreferat im AStA Marburg
29.11.2016, Oldenburg, Autonomes Schwulenreferat der Uni Oldenburg
Details bitte ggf. noch einmal bei den jeweiligen Veranstalter*innen prüfen. Ich nehme an, dass Patsy die Termine auch auf ihrer Homepage laufend aktualisieren wird.
Oh … Weissenburg. Beinahe um die Ecke, sozusagen. Hm. Mal gucken, ob ich mir das am Feiertag gebe.
Vielen Dank für den Tipp, das Teil ist sogleich auf dem Stapel zu lesender Bücher gelandet.
Kannst ja dann mal schreiben, wie’s dir gefallen hat. :-)
Ihre Aufsätze sind sehr lesenswert, nicht nur aufgrund deines Stils. Ich kann stets viel daraus mitnehmen, sowohl für mich persönlich als auch für Diskussionen (gerade mit anderen Eltern -___-).
Den Sammelband setze ich auf meine Liste.
„Wir müssen uns klarmachen, wo Heteronormativität uns selbst prägt, was das für uns persönlich und politisch bedeutet, und was wir mit dieser Situation anstellen wollen. Ich bin davon überzeugt, dass wir nur aus diesem Verständnis heraus persönliche und politische Strategien entwickeln können, die wirksam und nachhaltig sind.“
Mit anderen Worten: Lasst uns die Scheiße, die an unseren Schuhen klebt, als Dünger nutzen, und eines Tages gute Früchte ernten. Erfahrungen sind nicht nur für uns selbst da. Wir können sie für uns und für andere in etwas Gutes verwandeln.
Ganz ähnlich haben Sie es ja auch im Ausblick des „Schlumpfhausen“-Artikels formuliert: „Stell dir die Frage, was du dir in deiner Kindheit, in deiner Jugend und während und nach deinem Coming-Out am Dringendsten gewünscht hättest. Auf den Antworten zu dieser Frage sollte eine erfolgreiche Hilfsstrategie für die nächsten Generationen aufbauen. Diese Frage können wir aber nur dann beantworten, wenn wir uns ehrlich und selbstkritisch erinnern, auch schmerzhafte Erinnerungen miteinander teilen und dabei vor allem nichts verdrängen.“