„Mit Rechten reden?“ Das ist eine seit einiger Zeit immer wieder zu Recht gestellte und unterschiedlich beantwortete Frage. Macht das Sinn? Wenn ja, wie bekommt man es hin, der Auseinandersetzung mit Menschen, die gar nicht sachlich diskutieren wollen, trotzdem irgendeinen Mehrwert abzutrotzen? Spätestens seit heute frage ich mich: Mit Sozialdemokrat:innen reden? Geht das? Wem nutzt das? Kann man sich das nicht besser sparen?
* * *
Anfang Februar haben 185 queere Schauspielende in der Süddeutschen Zeitung unter dem Hashtag #ActOut von Diskriminierungen, Ängsten und erzwungenem Versteckspiel in ihrem Beruf berichtet und mehr Diversität im Schauspielgewerbe und bei den Produktionen eingefordert. Sandra Kegel, die Feuilleton-Chefin der FAZ hat daraufhin die Erfahrungen der Unterzeichner:innen relativiert bzw. einfach gänzlich in Frage gestellt und suggeriert, sie würden ihre queeren Identitäten nur instrumentalisieren, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Der Artikel gipfelte in dem unsäglichen Satz: „Bei einer Rolle übergangen zu werden mag ärgerlich sein und sicherlich auch kränkend, aber lebensgefährlich ist das nicht.“
Bereits vor dem Erscheinen dieses Artikels hatte die Grundwertekommission der SPD Sandra Kegel zu einem Online-Talk mit dem Titel „Kultur schafft Demokratie“ eingeladen. Nur dank des Einspruchs der Parteigruppierung SPDqueer [hier eine nachträgliche Stellungnahme] hatte man eingesehen, dass man um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Artikel von Kegel nicht herumkommt und, wohl nach einigem Gezerre, zusätzlich einige kritische Stimmen eingeladen. So weit, so bedenklich.
Was dann folgte, war schwer zu ertragen, dicht gepackt mit Zumutungen und ist nur deswegen einen Artikel wert, weil es leider charakteristisch dafür ist, womit man bei einer Diskussion über Queerphobie auch in sozialdemokratischen, also angeblich linken oder wenigstens „mittigen“ Kreisen rechnen muss. [Hier das Video der Diskussion, zum Thema ca. ab Minute 38]
Das Anliegen queerer Schauspielender, angstfrei über ihr Leben sprechen zu können, in ihrer Rollenwahl nicht eingeschränkt zu werden und realistischere, vielfältigere Perspektiven in ihr Handwerk zu bringen, wurde von Kegel zur „Ideologie“ erklärt. Moderatorin Gesine Schwan erkannte nicht, dass damit im Prinzip der Gleichheitsgrundsatz unseres Grundgesetzes als „Ideologie“ abgewertet wird, und ordnete dieses Argument dementsprechend auch nicht ein.
Nachdem der für ein Kurz-Statement geladene Johannes Kram das dankenswerterweise übernahm und dieses perfide Argument zu recht dem Instrumentarium der Rechten zuordnete, wurde ihm seinerseits „stalinistische Schauprozess“-Rhetorik unterstellt. [Hier Krams detaillierte Kritik an Kegels Artikel] Und so atemberaubend und unglaublich es klingen mag: Diese Rollenzuweisung, vorgenommen von Seiten der sozialdemokratischen Gastgebenden, erstreckte sich durch die ganze Diskussion: Sandra Kegel mit ihrem unsachlichen, kenntnislosen, relativierenden und beleidigenden Artikel als Opfer, queere Kritiker:innen als emotional aufgepeitschte Aggressor:innen.
Allen eingeladenen Kritiker:innen wurden dermaßen kurze Redezeiten zugemutet, dass man schmerzhaft mitlitt, als sie versuchten, unter dem bewusst geschürten Zeitdruck nicht nur die inhaltlichen Fehler, sondern auch die Frechheiten und Beleidigungen in Kegels Artikel auch nur ansatzweise zusammenzufassen. Notgedrungen fielen die Beiträge trotz offensichtlich guter Vorbereitung gehetzt, atemlos und spürbar frustriert aus. Nach dem weiteren Verlauf muss man leider vermuten, dass das genau so beabsichtigt war.
Als Kram eine Falschbehauptung Kegels richtig stellen wollte (ihr lägen angeblich mysteriöse Zahlen des ZDFs vor, die eine Über(!)-Repräsentation queerer Rollen im Programm belegten) wurde er erst von Kegel überschrien und dann auch noch von Schwan abgewürgt: Man könne solche Zahlen jetzt leider nicht überprüfen. In einer Diskussion über die Repräsentation queerer Charaktere wäre diese Frage ja durchaus ziemlich wichtig, und es gibt dazu einige Studien, die Johannes Kram mit Sicherheit kennt. Er durfte sie nicht vorbringen, sondern wurde rüde dafür abgekanzelt, dass er es wenigstens versuchte. Kegels Behauptung, die einen Kernkritikpunkt von #ActOut als komplette Lüge hinstellte, blieb so im Raum stehen, Krams Gegenrede wurde unterbunden.
Schauspieler*in Heinrich Horwitz, im ActOut-Manifest als nichtbinär zu erkennen, wurde bei der Vorstellung durch Schwan dreifach misgendert und stellte das richtig. Schwan reagierte zickig und beleidigt. Sie könne ja nicht jeden Menschen kennen (nicht mal die Menschen, die man zu einer Diskussion einlädt und selbst vorstellt?), und da dürfe man auch nicht gleich Bösartigkeit unterstellen. Das hatte Horwitz überhaupt nicht getan, sondern lediglich ziemlich sachlich auf den Fehler hingewiesen. Trotz eines beeindruckend gefassten und ruhigen Auftritts wurde Horwitz (ohne sich noch dagegen wehren zu können, denn da war they nicht mehr zugeschaltet) als übersensibel und aggressiv hingestellt.
Alfonso Pantisano, Vertreter von SPDqueer und LSVD zugleich, berichtete anrührend von einem Ex-Partner, der als schwuler Schauspieler bis heute eine heterosexuelle Fassade vorgaukelt. Sein Schmerz, auch als Partner unsichtbar gemacht worden zu sein, wurde spürbar, seine Wut darüber, dass Kegel als Außenstehende einfach seine Erfahrungen negiert, nachvollziehbar. Schwan erkannte darin nichts als „emotionale Gekränktheit“, zu der man natürlich „auch mal stopp sagen“ müsse. Wer dachte, Schwan habe seinen Beitrag nur deswegen mehrfach unterbrochen, um die Redezeit einzuhalten, begriff nun, dass sie in Wirklichkeit nicht aushalten wollte, dass er seiner berechtigten Wut über Kegels perfide Realitätsleugnung Ausdruck verlieh. Pantisano musste sich gefallen lassen, von Schwan wie ein kleines Kind mit mangelnder Aggressionskontrolle hingestellt zu werden: „So geht es nicht!“ Auch das, als er keine Möglichkeit mehr hatte, sich zu wehren, weil er inzwischen aus der Sitzung gekickt worden war.
Kurz gesagt: In der gesamten Debatte wurden alle Kritiker:innen bewusst an die kurze Leine gelegt, unterbrochen, zurechtgewiesen, beschämt und als irrational erregte Schneeflöckchen hingestellt, die – offenbar ohne jeden berechtigten Grund – die arme Sandra Kegel angriffen, die sich doch „so ernsthaft“ dem Thema gewidmet habe.
* * *
Ich muss zugeben, dass mich das Ansehen dieser Debatte entsetzt zurücklässt. Das ist es, was dabei herauskommt, wenn in der SPD über Debattenkultur geredet wird? Man beschwört die ganze Zeit „Augenhöhe“, und das ist es, was man sich darunter vorstellt? Kritiker:innen unter Zeitdruck setzen, unterbrechen, auf Kritik beleidigt reagieren, Stalinismus-Vergleiche, Täter-Opfer-Umkehr, Nachtreten in Abwesenheit?
Besonders bizarr: Fast mantra-artig betonen sowohl Kegel als auch alle Gastgebenden, dass diese tolle Debatte aber unbedingt weitergeführt werden muss. Und damit komme ich zur Anfangsfrage zurück. Warum sollte man? Welche Debatte soll da bitte „weitergeführt“ werden? War das denn überhaupt eine? Wenn ja, worüber? Vor allem aber: Worüber NICHT?
Über Diskriminierung im Schauspielgewerbe soll ja ganz offensichtlich nicht diskutiert werden, wenn man den Betroffenen überhaupt nicht zuhören will und wenn auch die ahnungslose Leugnung jeder Diskriminierung als sachlicher und überaus willkommener Debattenbeitrag gilt. Um konkrete Antidiskriminierungsmaßnahmen oder die Notwendigkeit realistischerer Drehbücher soll es offenbar auch nicht gehen, denn all das war keine Sekunde lang ein Thema. Die Frustration der Betroffenen – nichts, worüber man reden möchte oder was in eine ernsthafte Debatte über Diskriminierung selbstverständlich hineingehört, sondern nur Aggression und irrationale Gekränktheit.
Worüber also sollen wir da bitte „unbedingt weiterdiskutieren“? Darüber, dass sich queere Menschen immer nur wichtig machen und die Opferkarte spielen, um Privilegien zu erhalten? Über die unangemessene Aggression von Diskriminierten? Vielleicht darüber, dass es gar nicht schlimm ist, die Identität geladener Gäste erst zur Kenntnis zu nehmen, nachdem man sie falsch vorgestellt hat, aber total gemein, wenn die einen korrigieren? Dass man sich, wie Gesine Schwan allen Ernstes erklärte, vielleicht bald dafür rechtfertigen muss, wenn man nicht lesbisch ist? Darüber, dass es anderswo viel schlimmer ist und man sich deshalb nicht so haben soll? Oder ganz allgemein über die erschreckende Überempfindlichkeit von Minderheiten, die in Wirklichkeit gar keine richtigen Diskriminierungen erleben, weil Diskriminierungen erst schlimm sind, wenn sie Menschenleben kosten? Das tut anti-queere Diskriminierung übrigens auch in Deutschland, aber vermutlich ist es irgendwie stalinistisch, wenn ich das anspreche.
Nichts, gar nichts, was Sandra Kegel in ihrem Artikel oder im Gespräch von sich gegeben hat, deutet darauf hin, dass sie zum Thema strukturelle Diskriminierung irgendetwas Kompetentes beizutragen hat. Im Gegenteil. Alles zeigt, dass sie wild entschlossen ist, eine konstruktive Debatte über das Problem und über Lösungsansätze zu vereiteln. Mit allen unfairen Mitteln.
Dasselbe gilt übrigens leider auch weitgehend für die Beteiligten aus der „S“PD, inklusive Schwan. Das war ein weitgehendes Versagen auf ganzer Linie, teilweise sogar eine Unverschämtheit. Warum soll man mit solchen Leuten unbedingt diskutieren wollen? Wer hat etwas davon?
Wenn ich es richtig mitbekommen habe, haben einige der Schauspielenden aus dem Off einer Fortsetzung der „Diskussion“ bereits zugestimmt. Ich hoffe, sie wissen, was sie tun. Ich kann nur hoffen, dass sie sich nicht in eine Fortsetzung dieses Desasters locken lassen. Es wird niemandem etwas bringen, diese Nicht-Debatte, die von der eigentlichen Diskussion nur immer weiter wegführt, nochmals aufzunehmen.
Offenbar plant das Team von #ActOut eine öffentliche Reaktion auf Kegels Artikel. Ich halte das für eine bessere Idee als eine erneute Debatte unter dem Vorzeichen der Täter-Opfer-Umkehr.
Es ist wichtiger, der Öffentlichkeit klar zu machen, welche Diskussion hier gerade NICHT geführt wird, und warum nicht. Und dass nicht, wie mehrfach behauptet wurde, nur die AfD das Problem ist, sondern tatsächlich auch die angeblich so toleranten und lernbegierigen Gestalten aus der sogenannten Linken oder der Mitte. Wie unfassbar respektlos und aggressiv die SPD sogar mit ihrem eigenen Mitglied Pantisano als Vertreter der SPDqueer umsprang, muss alarmieren.
Was die SPD, ausgerechnet unter Leitung der Vorsitzenden ihrer Grundwertekommission, sich da geleistet hat, ist auch dann noch erschreckend, wenn man längst weiß, dass Queerphobie nicht nur hasserfüllte Fratzen, sondern sehr viel mehr nette, freundlich lächelnde, intellektuelle Gesichter hat, in allen politischen Spektren.
Links:
– Video der Diskussion: Jour Fixe – Kultur schafft Demokratie – mit Sandra Kegel [Besprechung des Artikels ca. ab Minute 38]
– #ActOut Webseite
– Stellungnahme des LSVD: SPD versagt bei Parteinahme für queere Menschen
– Samstag ist ein guter Tag: „So geht das nicht!“ Gesine Schwan stellt LGBTQ-Aktivist*innen in die Ecke der virtuellen SPD-Kneipe
– queer.de: Streit um FAZ-Kommentar: LSVD fordert SPD auf, sich bei LGBTI-Community zu entschuldigen
Hui, der ist sehr gut.
Ein wieder gut fundierter Beitrag, dessen Haltung ich vollständig teile.
Herzlichen Dank dafür! Noch zwei Anmerkungen dazu:
1) „weil Diskriminierungen erst schlimm sind, wenn sie Menschenleben kosten? Das tut anti-queere Diskriminierung übrigens auch in Deutschland“
Dieser kleine Nebensatz geht in der Gesamtthematik fast unter. Wenn es stalinistisch ist, sich darauf zu beziehen, dann BIN ich jetzt eben stalinistisch:
In der Tat kostet anti-queere Diskriminierung auch in Deutschland nach wie vor Menschenleben. Sie sorgt – zahlreiche Studien belegen es – für eine stark erhöhte Inzidenz insbesondere von Depressionen, Angststörungen und auch Suizidalität. Übrigens können auch Depressionen und Angststörungen Leben zerstören, führen sie doch zu einem schleichenden inneren und auch sozialen Tod.
Das nur „so ganz nebenbei“.
2) Die SPDqueer hat mit Datum vom 20.02.21 den Spagat versucht, einerseits den Ablauf der Veranstaltung aufs Schärfste zu kritisieren und andererseits den Eindruck zu vermitteln, die SPD an sich habe damit so gut wie gar nichts zu tun.https://spdqueer.spd.de/aktuelles/aktuelles/news/zahlreiche-genossinnen-engagieren-sich-tagtaeglich-fuer-akzeptanz-vielfalt-aufklaerung-und-gleichste/20/02/2021/
Das finde ich insbesondere doch sehr bemerkenswert, als einerseits selbst der SPDqueer-Mann Alfonso Pantisano behandelt, überschrien, abgekanzelt und abgewürgt wurde wie eine lästige Fliege, und andererseits die ganze Veranstaltung von niemand Geringerer als der Vorsitzenden der SPD-Grundwertekommission „moderiert“ wurde. Das kann man nicht einfach bagatellisieren und so tun, als hätte dieses Mega-Fiasko ja eigentlich nichts mit der SPD zu tun. Frau Schwan hat freundlich lächelnd als Moderatorin total versagt. Frau Schwan lässt vermuten, dass es mit Diskriminierungsabbau als SPD-Grundwert nicht weit her sein kann. Frau Schwan trägt zentrale Verantwortung für dieses Desaster. Wer da behauptet, „die SPD“ sei ja viel besser und/oder harmloser als Frau Schwan, versucht schönzureden, was nicht schönzureden ist. Wenn nicht einfach irgendwer aus der SPD, sondern die Vorsitzende der Grundwertekommission offenbar keinerlei Problem damit hat, dass queere Menschen in der Diskussion so behandelt werden, wie Du, lieber fink, es geschildert hast, und wie ich es selbst mit blankem Entsetzen gesehen habe, sondern dabei – im Gegenteil – noch freundlich lächelnd mitmischt, liegt etwas sehr Grundsätzliches im Argen.
Ich fordere daher Frau Gesine Schwan auf, von diesem Posten zurückzutreten.
Vielen Dank, Thadea, für deine Ergänzung und Ausführung. Ich hatte beim Schreiben mit dem Vorwurf gerechnet, dass man das alles doch nicht pauschal „der“ SPD anlasten dürfe, und so ein Einwand ist vielleicht auch nicht völlig ungerechtfertigt. Andererseits wäre es auch grob verharmlosend, dieses Debakel als ungewöhnliches Ausnahme-Versagen von wenigen Einzelpersonen zu betrachten. Deine Ausführungen bringen meine Sichtweise dazu ziemlich gut auf den Punkt.
Schwan hat offenbart, wie unfassbar weit sie von aktuellen Diskussionen über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeiten und Diskriminierungspraktiken entfernt ist, wie frappierend ihr jegliches Feingefühl (mit dem Thema, aber vor allem auch mit den Menschen) abgeht. Eine Partei, die sich solche Kompetenzdefizite in einer so wichtigen programmatischen Position gönnt, hat ein grundsätzliches Werte-Problem. Das sehe ich genau wie du.
Weil es hier gerade so ein bisschen hinpasst: Ich bin heute auf eine PR-Aktion der CDU gestoßen. Anlässlich des Jahrestages des Terroranschlags von Hanau hält die Union es für adäquat, mehrere Spitzenpolitiker:innen „Rechtsextremismus“ auf Papier schreiben zu lassen, das dann zerknüllt in Mülleimer geworfen wird, und das ganze als Video zu twittern. Eine hilflose, alberne Kleinkinder-Symbolik als Reaktion auf ein Terrorattentat.
Auf wie viele Arten das feingefühlsfrei, inadäquat, inkompetent und schockierend ist, erklären Samira El Ouassil und Friedemann Karig in ihrem aktuellen Podcast: https://piratensenderpowerplay.podigee.io/42-neue-episode
Das Fazit dort sinngemäß: Wer nach dieser Aktion noch darauf hofft, dass die Union jemals irgendetwas Sinnvolles zur Rassismus-Bekämpfung beitragen kann, ist komplett verrückt. Ich habe bezüglich der SPD und der Bekämpfung von Queerfeindlichkeit gerade ein sehr ähnliches Gefühl.
Danke für diese präzise Analyse und klare Aussage!
In der Tat, das war auch meine Befürchtung beim Betrachten dieses abstoßenden Spektakels: Hoffentlich lässt sich niemand auf das vergiftete Angebot eines „Streitgesprächs“, das von Sandra Kegel und Gesine Schwan so begeistert unterbreitet wurde. Es ging und geht eben gerade nicht um Meinung gegen Meinung. Es geht vorrangig darum, dass einmal zugehört und das Zuhören auch ausgehalten wird.
Das ein oder andere Informationsgespräch könnte dabei durchaus helfen, wenn es sich um Menschen guten Willens handelt, was ich nicht vorschnell ausschließen möchte. Oder aber, da es sich ja um lauter belesene (?) Leute handelte, eine Ausweitung der Lektüreerfahrung. Kegel, Bong, Scherer und Schwan (schon die Besetzung dieses Forums ist in etwa so divers wie ein Beet Stiefmütterchen, was Teil des Problems ist) ließe sich da zum Beispiel der erste Teil aus Eribons „Betrachtungen zur Schwulenfrage“ ans Herz legen. Vielleicht erkennen diese etwas darin wieder, wenn es darum geht, wie eine Mehrheit den Diskursraum prägt und entschlossen – hier in der Struktur und Komunikation durchaus gewaltsam – verteidigt. Ganz plastisch wurde dies schon durch den Hinweis von Sandra Kegel, sie sei nun eben Literaturkritikerin, die bisweilen Verrisse schreibe und damit wohl andeuten wollte, so sei auch ihre Glosse zum ActOut-Manifest angelegt. Was für ein Abgrund an Empathielosigkeit, Überheblichkeit und Gewissheit der eigenen Diskursmacht sowie Letztgültigkeit des eigenen Lebensmodells tut sich auf, wenn jemand meint, ein solches Manifest und das zugehörige Interview aus dem Blickwinkel von Literaturkritik betrachten und abwerten zu können/dürfen?
Interessant fand ich aber auch, dass Gesine Schwan von einer vermeintlichen „Exklusion“ der Frau Kegel sprach. Um ihr diese Erfahrung zu ersparen, sprangen ihr Schwan, Scherer und Bong eilfertig zur Seite, als die Situation für Kegel zu beschämend zu werden drohte, sah sie sich doch zwischenzeitlich den einerseits sachlich fundierten, andererseits aber eben auch persönlich geprägten Einwänden von gleich mehreren Betroffenen gegenüber. Kegel ging dabei von vornherein davon aus, dass es primär um einen Angriff auf ihre Person ging und unterstellte dabei grund- und anlasslos den Betroffenen jede denkbare Form von Schäbigkeit, bis dahin, dass sie aufgrund eines (bei aufmerksamem Zuhören leicht vermeidbaren) Missverständnisses beim Statement von Alfonso Pantisano annahm, dieser sei gerade dabei, bislang wohl gehütete Geheimnisse ihres Privatlebens (Liaison mit einem Schauspieler?) zu offenbaren, obwohl er allein über seine eigenen Beziehungserfahrungen redete.
Kurzum: Kegel spürte für einen Moment wie es sich anfühlen könnte, wenn man sich einer Mehrheit von Andersdenkenden, Andersliebenden, Anderslebenden gegenüber sieht, die ihr So-Sein unverhohlen artikulieren. Wenn Scham aufsteigt, vielleicht sogar der Gedanke der Fehlerhaftigkeit. Und sie spürte – ohne echten Grund – die blanke Panik, die entstehen kann, wenn eine nicht öffentliche Seite des eigenen Privatlebens plötzlich ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wird.
Im Gegensatz zu queeren Menschen eine für Angehörige der Hetero-Mehrheitsgesellschaft wahrhaft ungewohnte Erfahrung. Offenbra kaum aushaltbar und daher von Kegel und den anderen Angehörigen dieser Mehrheitsgesellschaft im Stream sofort auf das Schärfste zu unterbinden.
Dass etwa Alfonso Pantisano mit seinem biographischen Schlaglicht von ebensolchen Erfahrungen sprach, vor denen ihn aber keine Gesine Schwan, kein Hans Jürgen Scherer, kein Jörg Bong jemals zu bewahren und zu beschützen bereit war und – wie gesehen – ist, bildete dazu einen sprechenden Kontrast. Die eine, nur temporär empfundene und keineswegs real vergleichbare Exklusionserfahrung (Kegel) wird validiert, die andere, leider sehr dauerhafte und sehr reale Exklusionserfahrung (Pantisano) wird negiert, abgewertet, ja deren Thematisierung sogar als Akt der Aggression gebrandmarkt.
Der Verunsicherungsfaktor ist noch immer groß, wenn die so lange schweigend erduldenden Marginalisierten ihre Stimmen erheben, wenn sie hörbar und sichtbar werden. Das gilt auch und gerade bei den „freundlichen Gesichtern“ der vermeintlich Toleranten, die zwar gerne Abstraktes debattieren, aber mit konkreten Erfahrungen konfrontiert in kopf- und herzlose Panik und alte Abwehrreflexe verfallen. Sorgen wir also dafür, dass sie genug Gelegenheit haben, sich daran zu gewöhnen. Wenn Gespräche dazu dienen – dann nur zu.
Danke auch dir, Sven, für deinen Kommentar.
„Kegel spürte für einen Moment wie es sich anfühlen könnte, wenn…“
Ich finde vor allem diese deine Ergänzung wirklich interessant. Ich habe diesen Aspekt ganz übersehen, aber er offenbart tatsächlich eine weitere Dimension.
Vielen Dank für den gut recherchierten Artikel, der mir in vielen Punkten aus der Seele spricht.
Die unsägliche „Diskussion“ – oder wie man* diese Mischung aus Ignoranz, Arroganz und Selbstgerechtigkeit nennen soll – hat mir mal wieder deutlich vor Augen geführt, wie wichtig es ist, vor der Teilnahme die Diskussionsbedingungen genau zu prüfen. Wer nimmt teil? Wer darf wie lange reden? Welchen Zweck erfüllt die Diskussion? Welchen Zweck erfüllt meine eigene Teilnahme? Wer bestimmt und überwacht die Bedingungen und ihre Einhaltung?
Im Grunde war die „Diskussion“ in meinen Augen nur eine weitere etwas weniger offensichtliche Zurschaustellung dessen, was wir vor nur wenigen Wochen beim WDR zum Thema Rassismus erleben mussten. Diesmal darf die lästige Minderheit selbst zu Wort kommen, aber nur in dem Rahmen, den man* ihnen zugesteht. Nämlich als demütige Bittsteller_innen oder Feigenblätter.
Tone Policing, Reframing, Täter_in-Opfer-Umkehr und die Legitimierung von Menschenfeindlichkeit als „Meinung“ erfüllen seit jeher den Zweck, die Minderheit zu disziplinieren und ihnen den niederen Platz zuzuweisen. Statt sich den ganzen Kuchen gleichberechtigt zu teilen, reagiert man* empört, wenn das queere Gesindel sich nicht artig für die dahingerotzen Brotkrümel bedankt.
An und für sich nichts Neues, aber auch gerade deshalb so frustrierend. Ich hoffe, die Teilnehmer_innen lernen daraus und bestimmen die Diskussionsbedingungen künftig selbst aktiv(er) mit.
Mit Sozialdemokrat:innen reden? — der zaunfink | Carmilla DeWinter
Ein Dialog wäre nur dann sinnvoll, wenn die Moderation neutral ist und wirklich an einem Diskurs interessiert.
Wobei „Neutralität“ allerdings nicht heißen darf, dass blindes Ressentiment einerseits und das Pochen auf Menschenwürde und Gleichberechtigung andererseits als „zwei gleich legitime Meinungen“ eingeordnet werden, was leider immer wieder der Grund ist, weshalb wir in die eigentliche Diskussion nicht einmal ansatzweise einsteigen. Aber so hast du es sicher auch nicht gemeint, liebes Tenna.
Nein, so habe ich es definitiv nicht gemeint. Da sollte es meiner Ansicht nach keinerlei Neutralität, sondern eine klare Haltung für Menschenwürde und gleiche Rechte geben. Es ging mehr darum, dass man Leute zu Wort kommen lässt und darauf achtet, dass ein echter Austausch zustandekommt. Was ja eigentlich Aufgabe einer Moderation sein sollte.
Hallo, statt einmal kritisch-reflektiv das Desaster aufzuarbeiten, legt Gesine Schwan in der Süddeutschen Zeitung mit einem Gastkommentar „zur vergifteten Debattenkultur“ nach:
https://www.sueddeutsche.de/kultur/wolfgang-thierse-spd-debatte-gesine-schwan-gender-1.5219164?reduced=true&utm_source=Twitter&utm_medium=twitterbot&utm_campaign=1.5219164
Leider ein Bezahlartikel, allerdings wird auf queer.de in dem Artikel zu Wolfgang Thierse in den aktuellsten Kommentaren (Seite 4) ausführlich daraus zitiert.
Vielen Dank für den Hinweis, Lyndon. Ernsthafte Aufarbeitung oder Selbstkritik scheinen leider in weiter Ferne.
Daniel Warland hat in seinem Reaktionsvideo (https://www.youtube.com/watch?v=4tgRaiL3yPc&list=LL&index=5) auf einen sehr wichtigen Aspekt hingewiesen, in dem er sagt: „Wir alle laufen die Gefahr uns einreden zu wollen, dass wir nicht sexistisch, nicht rassistisch, nicht homophob sozialisiert wurden. Aber das ist nicht die Realität.“
Darin steckt meines Erachtens der Grund, warum das Gespräch von Heinrich Horwitz, Johannes Kram und Bettina Hoppe mit Jörg Bong, Gersine Schwan und Sandra Kegel so krachend schon gescheitert ist, bevor Alfonso Pantisano überhaupt dazukam.
Frau Schwan ist in einer Zeit sozialisiert worden, in der homosexuelle Handlungen vollumfänglich, selbst unter Erwachsenden (!) mit Strafe (!) durch § 175 StGB bedroht wurden. Herr Bong und Frau Kegel wurden in einer Zeit groß, in der dieser Paragraph zum „Schutz“ minderjähriger, jugendlicher Männer vor „der Verführung zuur Homosexualität durch erwachsene Männer“ aufrechterhalten wurde (!). Homophober geht es nicht. Und diese drei sind unwillig und unfähig diese Prägung durch die Gesellschaft zu erkennen, weil es ihr Selbstbild als anständige, progressive und tolerante Menschen in Frage stellen würde. Sie denken ersthaft, dass der Vorwurf eine homophobe Aussage zu treffen, mit moralischer Verdammung verbunden sei. So als käme danach die Polizeit vorbei, um sie abzuholen. Aber das ist natürlich nicht der Fall. Denn alle Menschen in unserer Gesellschaft sind mit Homophobie groß geworden und wurden davon mehr oder weniger stark beeinflußt. Manche reflektieren darüber (häufig homosexuelle Menschen, welche die damit verbundene Scham loswerden müssen), andere denken darüber nicht nach (wahrscheinlich die Mehrheit der Menschen wie Frau Schwan, Herr Bong und Frau Kegel) und andere richten ihr Denken danach aus (die meisten, wenn nicht alle, die mit der AfD sympathisieren). Mit letzteren zu reden ist daher eher aussichtslos. Bei allen anderen muss eine gewisse Vorarbeit geleistet werden.
Wenn eine Diskussion über homophobe Strukturen in unserer Gesellschaft gelingen soll, müssen sich die, welche darüber diskutieren wollen, die Bereitschaft haben, sich ihrer eigenen Homophobie zu stellen. Sonst wird ihnen nicht klar, warum ihre Gesprächspartner*innen von bestimmten Aussagen zu Recht getriggert und warum es keine moralische Verdammung ist, wenn sie darauf hingewiesen werden.
Um Die Ärzte zu zitieren: „Es ist nicht Deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wäre nur Deine Schuld, wenn sie so bleibt.“
Und das hier zur Homophobie Gesagte gilt auch für Sexismus, Rassismus, Ableismus, Transphobie, Juden- und Muslimenfeindlichkeit, Feindlichkeit gegenüber Sinti und Roma und andere gruppenbezogener Menschenfeindlihckeit, die ich vergessen habe.
Die meisten Menschen in diesem Land sind ganz in Ordnung. Aber sie sind nicht frei von einer finsteren Seite. Keiner von uns. Auch ich nicht.
Das Video von Warland ist wirklich sehenswert!
Ich stimme dir vollkommen zu. Das ganze Debakel bestätigt auf eindrucksvollste Weise ein Zitat von Tupoka Ogette, das ich an anderer Stelle schon auf den Bereich der Queerfeindlichkeit übertragen hatte:
„Dementsprechend erhält auch jeder Mensch, der es wagt, nur eine Vermutung auszusprechen, dass es sich in einer Situation oder bei etwas Gesagtem um das leidliche R-Thema [Rassismus] handelt, umgehend und ungeprüft die Höchststrafe. Denn einen Rassismusvorwurf zu erhalten, ist immer schlimmer und emotional schwerwiegender, als das, was die fragliche Situation oder der fragliche Spruch ausgelöst hat. Immer. Deshalb macht man sich in Happyland auch vielmehr Sorgen darüber, rassistisch genannt zu werden, als sich tatsächlich mit Rassismus und dessen Wirkungsweisen zu beschäftigen.“
https://www.migazin.de/2017/03/31/willkommen-in-happyland/
Danke für den Buchtipp, Fink. Ich habe da gerade mal reingelesen und finde den warmen und verständnisvollen Ton schon jetzt sehr ansprechend. Der wird sich wahrscheinlich noch als sehr hilfreich erweisen, wenn es „ans Eingemachte“ geht. Ist auf meiner To-Read-Liste.
Komplette Zustimmung hier in den Kommentaren und zum Blogbeitrag. Das passiert tagtäglich im Kleinen und im Großen.
Das nett (gemeinte) und einfach zu sagende „Das ist alles heutzutage kein Problem mehr“, erweist sich in solchen Situationen über Zwischentöne als gar nicht mehr nett, als ein „das wollen wir alles nicht hören, wollen nicht darüber reden, wir sind „so“ nicht, also müssen wir auch uns nicht damit beschäftigen“ (m.E. ein wichtiger Punkt, dass alles immer noch in die Schmuddelecke gezogen wird und das der Debatte die Legitimation entziehen will) oder „seid doch nicht so empfindlich“. Diese und manch andere -ismen/Feindlichkeiten werden auch immer noch wiederholt vergessen oder heruntergespielt, auch um das eigene Weltbild „einfach“ zu halten.
Und das bringt mich auch zur Frage, welche Partei (die etabliert ist und mitgestalten kann) ist aus queerer und persönlicher Sicht überhaupt guten Gewissens wählbar, wenn auch sozialere/Vielfalt-bewusstere immer noch nicht diese Belange effektiv vorwärts bringen, manchmal sogar blockieren oder unter den Tisch fallen lassen?
Es geht auch insbesondere darum, dass vom Privaten bis zu Beruf/Öffentlichkeit, Events/Versammlungen, Ausgehen/Kultur, vom Gemeinderat bis Bundestag überall Offenheit und Selbstverständlichkeit Einzug halten, Dialoge geführt werden, über Erfahrungen gesprochen und nachgefragt wird. Sozusagen haben beide Seiten aufzuarbeiten, Community und Mehrheitsgesellschaft. Bei Ersterer die Erkenntnis, dass z.B. internalisierte Diskriminierung nicht mit weiterer (Selbst- und Fremd-)Diskriminierung etc. beantwortet werden muss. Letztere kann zeigen, dass sie gut genug informiert ist, Feindlichkeiten nicht geduldet werden und auch helfen kann, wenn echte hilfreiche Tipps und Unterstützung gebraucht werden.
Leider wissen wir noch nicht, wie viele Millionen Menschen exakt allein in Deutschland queer sind, in einer queeren Beziehung / mit queerer Identität leben, sich mit oder ohne LGBTIQ+-Labels definieren, oder sich nach wie vor noch nicht trauen. „Millionen“ heißt aber, dass es mehr als genug sind, dass es alle etwas angeht. Wenn jeder einzelne darüber spricht, ist das Thema dauerhaft präsent oder es bestehen überall Möglichkeiten informiert zu sein und darüber zu reden.
Es ist ein Gewinn für den gesamten gesellschaftlichen und medialen Umgang. Offenheit bei diesem Thema heißt gleichzeitig Offenheit bei vielen weiteren Themen. #Artikel3, #actout, #ihrkönntaufunszählen sind Signale. Sie sollen permanent werden und alle Bereiche umfassen.
Statt über Schlagwörter Personen in eine bestimmte Ecke zu stellen, unerwünschte Statements abwürgen, -ismen gegeneinander ausspielen oder unkommentiert lassen (gleichzeitige Präsenz ist wünschenswert), von Marginalisierten fordern alleine die Welt retten zu müssen oder auch noch dafür kritisiert zu werden.