Es geht schon damit los, dass man sich über die erste deutsche schwule Serie eigentlich freuen möchte, aber dummerweise auf den Kalender guckt: 2021. Im Ernst. Die allererste. Das ist wie fünf Euro im Lotto gewinnen.
Ich fange mit dem Positiven an: Die Titelsequenz von All You Need – im Wasser schwebende Eiswürfel, Zitronenscheiben und Cocktailschirmchen zwischen bunt funkelnden Bläschen – ist so bezaubernd schön, dass ich zu Beginn jeder Folge doch wieder gute Laune bekomme. In die Handlung werden erfreulich viele Themen eingearbeitet wie Alltagsrassismus, Intersektionalität, etwas Gendertheorie und sogar – was viel zu selten passiert – Klassismus. Alles eher auf einfachem Niveau, aber besser als gar nicht.
Am Anfang mag ich sogar alle Figuren. Wirklich. Die sind alle lustig, schön und charmant. An mir liegt es nicht, dass das nicht so bleibt.
Vor allem die erste Folge verklemmt sich dermaßen in einem ärgerlichen Erklärbär-Modus, dass ich mich frage, aus welcher Perspektive und für wen das alles eigentlich erzählt wird. In meinem Alltag muss sich jedenfalls kein Schwuler dafür rechtfertigen, Schwanzbildchen zu verschicken oder erklären, warum er das tut. Dreht das wirklich ein schwuler Mann? Leider wirkt das alles wie eine heterosexuelle Fantasie darüber, was Schwule so reden könnten, wenn sie unter sich sind – aber gleichzeitig möchten, dass auch Heteros inhaltlich folgen könnten, wenn sie dabei wären. Diese Unentschiedenheit der Perspektive macht die Dialoge sperrig und über längere Strecken unglaubwürdig. [1]
Dann wird es von Folge zu Folge ärgerlicher, den Protagonisten dabei zuzuschauen, wie sie sich in zunehmend eskalierendes Beziehungselend verstricken, das einzig und allein dadurch zustande kommt, dass sie ausnahmslos an einer sexuell exklusiven Beziehung als völlig alternativloser Option festhalten. So lange man nicht in einer Beziehung lebt, so der unreflektierte moralische Subtext, ist Gelegenheitssex ok, aber mit dem Beginn einer Beziehung muss damit offenbar unter allen Umständen Schluss sein, egal, wie unzufrieden man damit eigentlich ist und ob das der Beziehung gut tut. Wo auch immer trotzdem Sex außerhalb der Beziehung stattfindet, sich ankündigt oder auch nur in Gedanken als Möglichkeit auftaucht, wird das empört zurückgewiesen, eifersüchtig verhindert oder sogar gewalttätig bestraft.
[Achtung: Der nächste Absatz ist voller Spoiler, bitte ggf. überspringen]
Da ist zum Beispiel Levos Reaktion auf Toms Frage, ob er sich vorstellen könnte, mal jemanden für einen Dreier dazu zu holen: Blankes Entsetzen, ein rauschender öffentlicher Abgang, der Purcells Dido Ehre gemacht hätte und anschließend stundenlanger Liebesentzug. Da ist Vince, der seinem neuen Partner Robbie die Löschung aller seiner Dating-Apps zu Füßen legt wie eine Opfergabe am Altar der Monogamie. Das wirkt nicht, als wäre er einfach so verliebt, dass er eh keine Lust auf Andere hätte, sondern wie eine feierliche Inszenierung: Ich verzichte für dich auf meine Freiheit, denn nur dieser Verzicht kann unsere Beziehung wirklich gültig machen. Da ist Levo, der Tom in eine schwule Sauna schleppt, ihm dann eifersüchtig hinterher schleicht und verstört reagiert, als dieser wegen einer Anmache durch einen anderen Mann mit einem Ständer da steht. Da ist Tom, der sich mit Levo bald genauso eingesperrt fühlt wie in seiner früheren Hetero-Ehe und deshalb zu den eingeübten Lügen greift, statt die Situation zu klären. Da ist außerdem Robbie, der (in einer anderen Zeitebene der Story) seinen damaligen Freund mit einem Anderen beim Sex überrascht und ihm in entfesselter Eifersucht das Gesicht blutig schlägt. Am Ende kommt es nicht etwa wegen des Seitensprungs von Vince und Tom zum Eklat (denn davon ahnen die Anderen noch gar nichts), sondern wegen eines Fotos, auf dem sich beide einfach nur küssen. Übrigens: Die schmerzhafte öffentliche Katharsis auf der großen Gartenparty – ich fürchte, das fanden schon ein, zwei oder dreihundert Andere als Abschluss einer Serienstaffel originell.
[Spoiler-Ende]
Mein dringender Wunsch für die zweite Staffel: Kann bitte ein Schwuler aus diesem Jahrzehnt dazustoßen und den vier Protagonisten erklären, wie eine offene Beziehung funktioniert?
Bitte nicht falsch verstehen: Es muss natürlich nicht jeder Schwule eine offene Beziehung gut finden. Aber in einer Serie, die schwules Leben abbilden möchte (und in der trotz aller Beteuerungen, dass hier Queersein „angenehm nebensächlich“ sei, permanent darüber verhandelt wird, wie das richtige schwule Leben funktioniert) kann doch bitte irgendwo der Gedanke Platz finden, dass eine offene Beziehung zumindest denkbar ist und insbesondere dann in Frage kommt, wenn alle mit ihren offenbar völlig unreflektiert geschlossenen Exklusiv-Verträgen dermaßen offensichtlich ableiden, oder?
So aber stolpern die schwulen Protagonisten durch einen Plot um Eifersucht, unreflektierten Monogamiewahn und den Seitensprung als Weltuntergang, der ebenso gut auch 1960 im Ohnsorg-Theater funktioniert hätte. Keine einzige der Figuren profitiert am Ende von den liberalen Errungenschaften und Beziehungs-Optionen, die die schwule Subkultur hervorgebracht hat. Sie leiden stattdessen an den Verlockungen und Freiheiten dieser Kultur, in der sie sich trotzdem die ganze Zeit bewegen. Spießer, gefangen in schwulen Körpern. War Emanzipation nicht mal irgendwas anderes?
Vielleicht mache ich ja den Fehler, zu denken, dass eine schwule Serie alle Facetten schwulen Lebens abbilden sollte. Und wir sollten tatsächlich über den Punkt hinweg sein, an dem jeder einzelne Schwule im TV auf seine universelle Repräsentationswürdigkeit abgeklopft wird – was natürlich keine einzelne Figur bieten kann. Es darf und sollte gute und böse, kluge und dumme, klischeehaft übertriebene und unauffällige schwule Figuren geben. Trotzdem muss ich feststellen: Ein wichtiger Teil schwuler Lebensweisen (die gibt es nämlich wirklich: im Plural!) wird hier nicht repräsentiert, sondern eher unsichtbar gemacht. Mehr noch: Er wird nicht nur nicht gezeigt, sondern implizit durch den gesamten Subtext moralisch abgewertet. „Queer“ ist diese Serie nicht nur deshalb nicht, weil die Protagonisten alle schwul sind, sondern auch deswegen nicht, weil sie eben keine vielfältigen Lebensweisen als gleichwertig abbildet, sondern nur um ein einziges Thema kreist: Monogamie und wie man an ihr scheitert.
Vielleicht sind Schwule, die an der liberalen schwulen Subkultur leiden, statt sich ihrer selbstbestimmt und einvernehmlich zu bedienen, das, was ein Heteropublikum heute gerne sehen möchte. Ich möchte es nicht.
All You Need hat die Chance vertan, nicht nur irgendwelche Schwule abzubilden, die angeblich „ganz normale“ Leben leben, sondern für das einzutreten, was man in der Beratungsarbeit etwas sperrig, aber treffend „Lebensweisen-Akzeptanz“ nennt: die wertvolle Einsicht, dass verschiedene Wege zum Glück führen können und dass sexuell exklusive Beziehungen ebenso dazu gehören wie offene Beziehungen, polyamore Netzwerke, Promiskuität als Single oder auch ein beziehungs- und/oder sexfreies Leben. Mehr davon täte nicht nur der schwulen Welt gut, sondern auch einem Heteropublikum, einem Filmgewerbe, das wirklich nach Diversität strebt, und der ganzen Gesellschaft.
Hörtip: Interview mit Stefan Mesch im Deutschlandfunk
Fußnote:
[1] Auf die Frage, aus welchen Gründen es doch besser sein kann, wenn queere Rollen auch von queeren Schauspielenden gespielt werden, werde ich vielleicht später einmal eingehen. Hier gehört das zwar eigentlich unbedingt hin, würde mich aber momentan überfordern.
Ich habe die „Serie“ auch gesehen. Leider muss ich sagen: kürzt man mal all die heteronormativen Monogamie-Dramen heraus, bleibt eigentlich kaum etwas an Handlung übrig. Sehr schade und eine absolut vertane Chance als „erste schwule Serie Deutschlands“.
Mir ist noch aufgefallen, dass Tom zunächst als Spießer gilt, aber – vielleicht auch aufgrund seiner fehlenden Erfahrungen – allmählich offener mit seiner Sexualität umgeht, während die anderen spießiger werden. Irgendwie ironisch.
Das impliziert auch, dass nur die »erfahrenen« Schwulen eben wüssten, dass nur Monogamie auf Dauer funktioniere und erfüllend sei. Aufklärerisch ist das wirklich nicht.
Das stimmt, Tom ist wie das Kind im Bonbonladen. Umso mehr ist es schade, dass er sofort auf Diät gesetzt wird.
Doch noch zur Besetzungsfrage: Ich möchte einerseits den Regisseur in Schutz nehmen. Seine Motive, zur Zeit des Castings (vor #ActOut) nicht gezielt nach schwulen Schauspielern gesucht zu haben, erscheinen mir plausibel.
Andererseits ist leider auch die heterosexuelle Besetzung eine vertane Chance. Stefan Mesch sagt im DLF: „Wären das vier queere Schauspieler bei ‚All you need‘, dann gäb es jetzt vier wichtige, präsentere queere Stimmen mehr.“ Und damit hat er vollkommen recht. Zu einer Filmproduktion gehört ja nicht nur der Film, sondern die Darstellenden sind auch Teil von PR-Kampagnen, in denen die Inhalte des Films noch einmal auf einer anderen Ebene öffentlich verhandelt werden. Es wäre hilfreich, wenn im Falle schwuler Thematik tatsächlich schwule Männer befragt werden können und keine Menschen, die nur aus einer Außensicht auf das Thema schauen können.
Im konkreten Fall wäre es uns zum Beispiel erspart geblieben, von (zumindest mutmaßlich) heterosexuellen Schauspielern erklärt zu bekommen, dass wir doch alle ohne Angst auf die Straße gehen können [Link] oder dass das Küssen eines anderen Mannes beim Dreh „gar nicht so schlimm“ gewesen sei [Link].
Danke für die Links, die hatte ich noch gar nicht gesehen.
Einige Schauspieler scheinen sich mit der Thematik nicht im geringsten auseinander gesetzt haben, so wie da teilweise herumgestammelt wird. Christoph Pellander, Redaktionsleiter ARD Degeto, ist dafür umso ehrlicher:
„[Mit Serien] wie „All you need“ [wollen wir] Aufmerksamkeit zu erzeugen und Zuschauergruppen zu erreichen, die wir im Ersten verloren haben oder bislang noch nicht gewinnen konnten. Dabei suchen wir auch gezielt nach Communitys, die sich bislang weniger im Angebot der ARD wiederfinden konnten und landeten auch bei der LGBTQI+-Community. “
Deine inhaltliche Kritik kann ich nachvollziehen, wenn man jedoch wie Thadea es so treffend formuliert, ein heteronormatives Monogamie-Drama daraus macht, dann muss die Liebe, auf die mit dem Titel angespielt und in der letzen Folge feierlich angestoßen wird, auch authentisch sein. Das hat mich am meisten genervt, die hölzernen Dialoge und komplette Gefühlslosigkeit im Umgang miteinander. Repräsentation ohne Authentizität hat keine Relevanz, zumindest nicht für „die ganze ElGeBeTeQ-plus“ (Mads Hjulmand, Tom) (die ja eh nicht repräsentiert wird, bei 4 schwulen Figuren?!). Die Möglichkeit der Identifikation scheint zumindest Hauptanliegen gewesen zu sein, war mir aber in keinster Weise möglich. Und zur Verbesserung der Akzeptanz bei Omi und Opi trägt Nicolas Puschmann bei LetsDance tausendmal mehr bei, als solch eine lustlose Serie es in der Mediathek jemals schaffen wird.
Ich könnte noch viel mehr kritisieren, aber es ist ja auch sinnlos Zeit mit einer solchen Kritik zu verschwenden, maus regt sich nur auf.
Ich freue mich jedenfalls auf die dritte Staffel von Pose, das ist auch cineastisch ein wahres Meisterwerk.
Danke für deine Ergänzungen Lyndon, insbesondere für den interessanten O-Ton von Pellander: „Dabei suchen wir auch gezielt nach Communitys, die sich bislang weniger im Angebot der ARD wiederfinden konnten“ Das kann man natürlich als einen wichtigen ersten Schritt sehen. Man kann sich natürlich auch fragen, warum dieser Schritt bis zum Jahr 2021 gebraucht hat.
Aber ich nehme gleichzeitig auch zur Kenntnis, dass sich ziemlich viele Leute über All You Need wirklich freuen, sich da wiederfinden und meine Kritik überhaupt nicht teilen. Ich gönne es ihnen, und ich gönne auch den Schauspielenden eine hoffentlich erfolgreiche weitere Karriere.
Deine Vorfreude auf die dritte Staffel von Pose teile ich. Die ersten Staffeln habe ich wirklich super gerne gesehen.
Teilweise habt ihr ja recht. Jetzt aber mal ehrlich: wart ihr alle mit 15-25 bei euren ersten Beziehungsversuchen schon so abgebrüht, dass es selbstverständlich eine „offene Beziehung“ sein musste, weil eine monogame ja schief gehen muss? Habt ihr anfangs nie den Wunsch verspürt, es möge „der eine für immer“ sein? Ich weiß nicht, ob ich euch dann dazu beglückwünschen sollte, oder ob ihr mir leid tun müsst.
Mir geht es nicht darum, was ich zwischen 1980 und 1990 gemacht habe oder hätte machen sollen – sondern was HEUTE, 2021, als Maß aller Dinge dargestellt wird. Und da ist es einfach absurd, die gesamte Storyline auf heteronormativen Dramen aufzubauen. Das ist einfach total vorgestrig. (Übrigens sind die Darsteller in der Serie ja auch durchaus älter als 15-25. Und gerade der „Reifste“ von ihnen wäre ja auch gewissen Dingen nicht abgeneigt, wird aber gleich wieder in seine Schranken verwiesen. Sein Kerl schleppt ihn in den Lederladen und in die schwule Sauna, er darf aber auf keinen Fall Gefallen daran finden – weder am einen noch am anderen. Das ist nichts als Quälerei.)
Da hast du etwas missverstanden, Roberto. Ich schreibe nirgends, dass irgendeine Beziehungsform schiefgehen muss. Ich schreibe nur, dass sie zu den eigenen Bedürfnissen passen sollte. Eine offene Beziehung hat für mich nichts mit „abgebrüht“ zu tun, sondern mit der Frage, ob ein traditionelles Beziehungsideal als „naturgegeben“ vermittelt wird oder ob man auch andere Modelle kennenlernt, indem man sie vielleicht konkret vorgelebt bekommt. Die schwule Subkultur könnte hier – im Gegensatz zum Hetero-Mainstream – eigentlich den Vorteil bieten, dass man von vornherein mehrere Optionen als gleichwertig kennenlernt und sich dann freier entscheiden kann, welche man ausprobieren möchte. Dass dieser Aspekt in der Serie vollkommen wegfällt, finde ich einfach nur sehr schade.
Ich beobachte an den Figuren in „All you need“, dass sie mit ihren gegebenen oder stillschweigend vorausgesetzten Exklusivitätsversprechen nicht besonders gut fahren, und dass sie offenbar nicht auf die Idee kommen, über andere Vereinbarungen auch nur nachzudenken, mit denen sie vielleicht alle zufriedener sein könnten. Vielleicht überrascht mich ja in der zweiten Staffel noch eine andere Entwicklung.
Mitleid erscheint mir jedenfalls nicht dort angebracht, wo jemand für sich die eine oder die andere Entscheidung trifft, sondern nur dort, wo jemand mit dieser Entscheidung nicht glücklich wird.
ich habe das „abgebrüht“ in Bezug auf das Alter der Personen gemeint, nicht in Bezug auf die Beziehungsform. Abgesehen davon finde ich das Gerede von „schwuler Subkultur“ als „Gegensatz“ zum „Hetero-Mainstream“ lahm und einen Irrweg. Auch Heteros kennen Dreier, offene Beziehungen, Polyamorie, Partnertausch, und das seit Jahrhunderten, nicht seit gestern. Da wird versucht, ein Gegensatz zu konstruieren, den es so nicht gibt. Es gibt bei allen alles. Versucht nicht, homonormatives Verhalten zu definieren!
Ich rede nicht von absoluten Gegensätzen, sondern von (sub-)kulturellen Unterschieden. Mein letzter Stand ist, dass seit ziemlich langer Zeit ungefähr die Hälfte aller schwulen Beziehungen explizit Sex außerhalb dieser Beziehungen zulassen. (Ich müsste da noch mal die Bochow-Studien rauskramen.) Darüber wird auch offen geredet. Du willst jetzt nicht ernsthaft behaupten, dass das in der Heterowelt genauso viele sind und dass dort genauso selbstverständlich darüber geredet wird, oder?
Ich verstehe nicht, wie du schon wieder auf „homonormatives Verhalten“ kommst. Wie oft muss ich noch klarstellen, dass ich von Wahlfreiheit spreche? Kannst du bitte auf das eingehen, was ich schreibe, statt dich an Strohmännern abzuarbeiten?
Auf die Schnelle finde ich die Bochow-Studie von 2011:
„In allen bisherigen Befragungen wurde zusätzlich zur Frage nach einem festen Partner erhoben, ob die Beziehung auch sexuelle Kontakte zu anderen Männern erlaubt, oder ob sie eher ‚monogam‘ gelebt wird. Hierzu ergaben sich seit den 1990er Jahren eher ‚zeitstabile‘ Anteile. Fast die Hälfte der Männer in Beziehungen gab an, dass diese ‚offen‘ gelebt wird.“
[Link]
Ob sich dieser Wert in den letzten 10 Jahren deutlich verändert hat, weiß ich allerdings nicht.
„Die Hälfte“ bedeutet aber auch, dass die Hälfte in exklusiven Beziehungen lebt. (Ich selbst sehe das ja auch als Irrweg, darum geht es ja gar nicht). Und ich wage zu behaupten, gerade am Anfang, bei den ersten Gehversuchen in Beziehungen. Die Serie zeigt genau das – erste Beziehungsversuche. Außer bei Tom, und eben deshalb ist auch er es, der Ausbrüche vorschlägt.
Bei den anderen wird ja dargestellt, woher psychische Unsicherheiten kommen und warum man sich da „Sicherheit“, „den einen“ wünscht.
Ich finde einfach nur, ihr legt falsche Maßstäbe an die Serie an, die sich ja zudem in der zweiten Staffel entwickeln kann. Zu glauben, jeder 20jährige wünscht sich als erstes eine offene Beziehung, nur weil wir im Jahr 2021 leben, ist meiner Meinung nach falsch.
Du hast in einem Punkt recht, Roberto: Die ersten Beziehungen sind statistisch häufiger noch keine offenen. Aber wenn beispielsweise Levo dauernd betont, das „wildeste“ Sexleben geführt zu haben, dann aber plötzlich katholischer als der Papst wird, als er eine Beziehung eingeht, dann darf man das doch seltsam finden. Toms Versuch, über einen Dreier zu reden, wird ja nicht mal eine Sekunde lang erwogen, sondern schon der bloße Gedanke als extremer Vertrauensbruch sanktioniert. Bei Vince erkenne ich schon eher ein inneres Ringen, aber auch da findet überhaupt keine echte Diskussion über Bedürfnisse statt. Vince verplant einen einzigen Abend ohne die Genehmigung seines Freundes, und als der vor Eifersucht durchdreht, führt das nicht etwa zu einer Diskussion über notwendige Freiräume (wir reden hier nicht einmal von Sex!), sondern Vince sieht sich genötigt, sich zu entschuldigen. Was für ein einengendes Beziehungsmodell wird denn da vorgeführt?
Wie gesagt: Wenn mich die zweite Staffel diesbezüglich mit mehr Reflexion überrascht, dann würde ich mich freuen. Ich bleibe allerdings dabei, dass auch die erste Staffel schon Raum nach oben hatte, der leider einfach nicht genutzt wurde.
„Zu glauben, jeder 20jährige wünscht sich als erstes eine offene Beziehung“
Noch ein weiteres Mal: Du kannst natürlich weiterhin gegen Dinge anargumentieren, die überhaupt niemand geschrieben hat, aber dann kommen wir halt nicht in eine sinnvolle Diskussion.
Ich kenne sehr wohl junge Männer und auch Frauen, die nach Jahren von bindungslosem Sex plötzlich den Wunsch nach einer monogamen Beziehung verspürten. Mir erscheint das weder ungewöhnlich noch an den Haaren herbeigezogen. Aber ich sehe in der Serie halt anscheinend etwas anderes als ihr: die Entwicklung von Menschen, wobei Alternativen durchaus anklingen. Zu keinem Zeitpunkt werden die Entscheidungen der Handelnden mit einer Norm abgeglichen, sie entscheiden selbst, und die Handlungsmotive sind für mich ausreichend schlüssig erzählt. Ihr mögt das anders sehen, gerne.
„Da wird versucht, ein Gegensatz zu konstruieren, den es so nicht gibt. Es gibt bei allen alles.“ Interessant ist dann halt nur, dass in dieser Serie dieses „Alles“ für die Schwulen keine Gültigkeit hat. In der Serie gibt es NUR heteronormative monogamistische Zwangsanweisungen und -vorstellungen. Alles andere wird aufs Heftigste niedergebügelt. „Wir“ (also der fink und ich) konstruieren hier im übrigen gar nichts. Im Gegenteil: Die Serie konstruiert Beziehungs-Rahmenbedingungen, die einfach vorsintflutlich und hanebüchen sind. Ich hätte mir jedenfalls schon mit 20 Jahren nicht vorschreiben lassen wollen, dass ich mir JEDE Aktivität außerhalb der Partnerschaft zunächst genehmigen lassen muss. Um nur EIN abstruses Beispiel zu nennen. Diese Einstellung „Wir führen jetzt eine Beziehung, also gehörst du ausschließlich mir“ ist der Ursprung der bei weitem meisten Streitigkeiten innerhalb von Beziehungen. Deshalb bleibe ich auch weiterhin dabei, mich ganz glasklar dagegen auszusprechen und die Serie für völlig aus der Zeit gefallen zu erklären.
Aus meiner Sicht tut das die Serie eben nicht, Rahmenbedingungen konstruieren. Sie zeigt die Folgen von Bedingungen, die die Handelnden selbst konstruieren. Andere Modelle werden angesprochen, nicht gezeigt, aber angesprochen, sie entsprechen aber nicht dem Reifegrad der Handelnden. Eifersucht wird als etwas Negatives (und nicht als etwas Natürliches, wie in vielen normativen Serien) gezeigt. Aber wir müssen hier auch nicht zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen.
Du hast recht, wir werden es aushalten, dass wir zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen.
Vielleicht war es unvermeidbar, dass in der ersten schwulen Serie doch alle am liebsten die jeweils eigenen Lebensmodelle und Wertvorstellungen repräsentiert sehen wollen. Ich schließe mich selbst da überhaupt nicht aus. Ich finde es beim Lesen verschiedener Kommentare – nicht nur hier – jedenfalls ganz interessant, dass solche Erwartungen auch dazu führen, dass zehn Zuschauende tatsächlich zehn verschiedene Filme sehen können.
Mir ist zunächst einmal wichtig, diesen späten und zugleich doch bemerkenswerten Fortschritt in punkto medialer Repräsentanz zu würdigen und zu feiern. Das kommt mir manchmal vor lauter Kritik in und aus der Community zu kurz.
Zugleich verstehe ich durchaus den Einwand und das Anliegen, möglichst vielfältige Lebensweisen abgebildet sehen zu wollen.
Ich frage mich aber, ob so eine Mini-Serie, die einen öffentlich-rechtlichen Mini-Anfang bedeutet, wirklich dafür geeignet ist und darauf angelegt sein kann, in 5 Folgen á 25 Minuten die wahre Vielfalt schwulen Lebens abzubilden. Fernsehen und Kino sind im fiktionalen Bereich nun einmal in erster Linie „Traumfabriken“ und bedienen daher in der Regel vorrangig die Träume und Themen der Zielgruppe. Und was das betrifft, so träumen schwule Männer anders als sie in der Mehrzahl leben. Verwiesen sei hierzu nur auf die repräsentative Studie von Lowen/Spears aus dem Jahre 2016 (ebd., Choices – Perspectives of Gay Men on Monogamy, Non-Monogamy, and Marriage, 1st Edition 2016; dt. Zusammenfassung unter https://mannschaft.com/neue-studie-junge-schwule-fuer-mehr-monogamie/): Demnach wünschten sich in der Altersgruppe der Schwulen zwischen 18 und 39 Jahren 92% (!) eine Heirat oder monogame Beziehung.
Dies thematisch zu „bedienen“ kann also durchaus heißen, die Zielgruppe und ihre Sehnsüchte ernst zu nehmen. Dass die Sehnsucht sich nicht immer erfüllen wird, und dass es alternative, nicht minder gültige oder lebenswerte Formen der Beziehungsgestaltung gibt, dürfte den meisten Zuschauern auch so sehr bewußt sein und ihrer Lebenserfahrung entsprechen.
Das Wort „Traumfabriken“ beinhaltet doch, dass Träume und Sehnsüchte nicht nur, wie du betonst, „bedient“, sondern auch produziert werden. In deiner Argumentation vermisse ich den Aspekt, dass das Ideal einer sexuell exklusiven, lebenslangen Beziehung nicht einfach von selbst in den Menschen heranwächst und dann nur abgebildet wird, sondern dass genau dieses Ideal schon etliche Generationen sehr einseitiger religiöser, politischer und eben auch medialer Propaganda hinter sich hat, und dass sich das heute höchstens ansatzweise verändert hat. Weder in Religion noch Politik noch Medien kann doch die Rede davon sein, dass andere Beziehungsmodelle gleich oft und als gleichwertig dargestellt würden. Sehnsüchte wachsen nicht in einem Vakuum heran, auch nicht die von Schwulen.
Muss man sich da nicht die Frage stellen, weshalb ein Ideal, das nur der Hälfte der schwulen Beziehungsrealitäten entspricht, so einseitig repräsentiert wird? Was ist denn positiv daran, das Ideal der exklusiven, lebenslangen Beziehung zu „bedienen“, dem zwar viele junge Schwule anhängen mögen, das aber kaum jemand in der Realität erfüllen wird? Wie viel unnötiges Leid wäre vermeidbar, wenn das Scheitern am exklusiven Ideal nicht so penetrant als totale Katastrophe oder moralisches Versagen geframed werden müsste?
Wenn, wie du schreibst, das Wissen um andere Beziehungsmodelle und deren Gleichwertigkeit vorhanden ist, weshalb werden die dann nicht einfach auch gleich häufig und als gleichwertig abgebildet? Ich kann über die Gründe hier auch nur spekulieren, aber mir fällt eigentlich kein besonders guter Grund dafür ein.
Doch. Die Frage „Woher kommt die Sehnsucht?“ kann man stellen. Sie hat allerding einiges von der Henne-Ei-Frage. Ich würde mir – selbst und gerade nach jahrelanger therapeutischer Tätigkeit – nicht zutrauen, sie zu beantworten. Welche Bedürfnisse hinter einer Sehnsucht oder einem Wunsch liegen und wie sie am besten zu befriedigen sind, ist meines Erachtens immer nur aus der individuellen Perspektive und Situation zu beantworten. Wenn überhaupt.
Von daher bin ich aber auch skeptisch, wenn es darum geht, Film und Fernsehen die Aufgabe zuzuschreiben, eine andere Sehnsucht zu wecken. (Das ruft in mir ohnehin ungute Assoziationen wach.)
Dass „das Scheitern am exklusiven Ideal (…) penetrant als totale Katastrophe oder moralisches Versagen geframed“ wird, kann ich übrigens weder bei der Serie, noch sonst feststellen. Die Serie bildet aber durchaus ab, dass es beides gibt: Ideal und Scheitern.
Das Leiden an der Diskrepanz zwischen Ideal und Realität wird uns Menschen wohl weiter begleiten, was auch immer die ARD sendet. Sie scheint mir bei anderen Lebensweisen und Idealen (offen, poly, prom etc.) nicht minder zu existieren. Aber wer weiß: Vielleicht wird die zweite Staffel der Serie davon ja etwas mehr zeigen.
„Von daher bin ich aber auch skeptisch, wenn es darum geht, Film und Fernsehen die Aufgabe zuzuschreiben, eine andere Sehnsucht zu wecken.“
Ich stimme dir zu, dass es nicht die Aufgabe von Medien sein sollte, das Publikum in eine bestimmte Richtung zu „nugden“, was Beziehungsmodelle angeht. Meine Wahrnehmung ist aber, dass ein sehr großer Teil der medialen Schöpfungen genau das tut: eine bestimmte Beziehungsform als universell, „natürlich“ und moralisch anderen überlegen darzustellen. Du nennst es „die Träume der Menschen bedienen“, für mich ist es genau das, was du jetzt selbst kritisierst: die Sehnsüchte des Publikums in eine bestimmte Richtung lenken.
„Dass „das Scheitern am exklusiven Ideal (…) penetrant als totale Katastrophe oder moralisches Versagen geframed“ wird, kann ich übrigens weder bei der Serie, noch sonst feststellen.“
Seltsam. Ich habe das als den Hauptkonfliktpunkt der Serie gesehen, auf dem der gesamte Spannungsbogen und der „Showdown“ am Ende aufbaut. Und ich sehe genau das jeden Tag in anderen Medien.
„Die Serie bildet aber durchaus ab, dass es beides gibt: Ideal und Scheitern.“
Es wird nur ein einziges Ideal wirklich dargestellt. Dass die Menschen daran auch scheitern, macht noch keine Diversität der Perspektiven aus.
„Das Leiden an der Diskrepanz zwischen Ideal und Realität wird uns Menschen wohl weiter begleiten, was auch immer die ARD sendet. Sie scheint mir bei anderen Lebensweisen und Idealen (offen, poly, prom etc.) nicht minder zu existieren.“
Das ist richtig. Von Letzterem sehen wir hier aber leider so gut wie nichts, und das ist doch meine Kritik. Es ließe sich auch eine Geschichte erzählen, in der es um die Konflikte von Menschen geht, die eine offene Beziehung führen. Ich will doch gar nicht, dass offene Beziehungen verherrlicht werden, ich vermisse nur, dass sie neben dem Ideal der sexuell exklusiven lebenslangen Beziehung überhaupt irgendwie als eine weitere valide Option vorkommen, und nicht nur als Schreckgespenst, das Schock und Empörung auslöst.
PS: „Welche Bedürfnisse hinter einer Sehnsucht oder einem Wunsch liegen und wie sie am besten zu befriedigen sind, ist meines Erachtens immer nur aus der individuellen Perspektive und Situation zu beantworten.“
Das würde ich aus therapeutischer Perspektive auch so halten. Aus politischer/emanzipatorischer Perspektive ist es aber meiner Meinung nach nie eine gute Idee, gesellschaftliche Phänomene zu entpolitisieren und auf rein individuelles Handeln reduzieren zu wollen.
Mich wird auch weiterhin massiv stören, dass Monogamie und Besitzanspruchsdenken in der Serie als einzig erstrebenswertes „Ideal“ dargestellt werden.
Übrigens habe ich irgendwie den Eindruck, hier beginnt sich so Manches im Kreis zu drehen – ganz nach der bekannten Manier „Nein!“ – „Doch!“ – „Nein!“ – „Doch!“ Ermüdend. Und bringt niemanden wirklich weiter, finde ich.
Mich hat die Serie auch nicht wirklich erreicht. Zu wenig Charme, zu wenig Witz aber auch kein Tiefgang. Eine offene Beziehung befriedigt meine promiske Geilheit. Eine sehr flüchtige Angelegenheit. Dafür nehme ich in Kauf, dass mein über alles geliebter Mann leidet und verletzt wird. Umgekehrt kenne ich das Gefühl selber auch. Ist es das wert? Muss ich immer und sofort die Befriedigung meiner Lust anstreben. Muss ich alles abvögeln wenn´s juckt?Brauche ich jeden Tag Sahnetorte? Wie köstlich sättigend ist ein Eintopfgericht! Es gibt hohe Beziehungswerte die heissen Treue, Verlässlichkeit, Rücksichtnahme. Wenn hier mehrfach betont wird wie unmodern und „völlig aus der Zeit gefallen“ eine treue Liebesbeziehung ist, dann gilt das nicht für meine Liebesbeziehung. „Verzicht“ nicht aus Prüderie sondern aus Liebe und Respekt. Hat die „offene Beziehung“ nicht auch etwas mit unserem gnadenlosen Konsum-
terror zu tun? Dies schreibt jemand, der sehr dankbar auf eine 44jährige Liebe mit vielen Höhen und ein paar Tiefen blickt.
Wer eine sexuell exklusive Beziehung führen möchte und damit glücklich ist, soll das tun. Für mich fängt das Problem da an, wo man das als die universell moralisch bessere Option hinstellt und andere Lebensmodelle abwertet, und sei es auch nur wenig subtil zwischen den Zeilen.
Wer mit einer monogamen Beziehung glücklich ist, darf das gerne sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass dieses Modell allen als einzig gültiger Standard aufgedrückt werden darf. Und genau das tut diese Serie. Mir ist unbegreiflich, wie man das nicht sehen kann. Aber der Mensch sieht ja oft nur das, was er sehen will.