Gerne etwas mehr. Anmerkungen zur CSD-Berichterstattung

Die Berichterstattung über den CSD ist in den letzten Jahren sehr viel besser geworden. Danke dafür! Nicht nur in kleineren Medien liest man aber immer noch richtig Schlimmes. Ich möchte hier ein paar Anregungen zur Verfügung stellen.

– Ein CSD ist ein politisches Ereignis. Queersein ist mehr als Glitzer-Nagellack. Wenn ihr den Pride Month redaktionell bei „Mode & Lifestyle“ oder „Kultur / Unterhaltung“ ansiedelt und nicht bei „Politik und Gesellschaft“, dann wird von vornherein alles schiefgehen. Nur wenn ihr die politische Funktion dieser Veranstaltung anerkennt, werdet ihr die typischen Schräglagen in der Berichterstattung vermeiden.

Schafft euch bitte das Vokabular drauf. Auch wenn ihr da vorwiegend Männer auszumachen glaubt und an den Frauen und nicht-binären Menschen vorbei guckt: Es ist trotzdem keine Schwulenparade. Informierte Kenntnis aller Buchstaben von LGBTIQ* sollte Mindeststandard sein, sonst seht ihr überhaupt nicht, wen ihr vor euch habt. Auch wenn nicht-binäre Menschen nicht so explizit in unserem Akronym auftauchen, wäre es schön, wenn ihr häufiger über sie berichtet. Formulierungen wie „Lack und Leder“ oder „Sado-Maso“ sind seit 30 Jahren veraltet. Wenn ihr über Fetische reden wollt, wird es hauptsächlich um Leder, Gummi und Sneakers/Sportswear gehen. Ihr solltet ruhig auch wissen, was Petplay ist und was das Akronym BDSM bedeutet. Wenn ihr das ganze queere Spektrum meint, ist „nicht-heterosexuell“ das falsche Wort. Wenn ihr nicht versteht, weshalb, macht euch bitte schlau, bevor ihr auch nur einen Satz hinschreibt. Sorgt dafür, dass ihr die Begriffe kennt und versteht, mit denen ihr hier arbeitet. Das müsst ihr in jedem anderen Themenfeld auch, und so furchtbar neu ist diese ganze Sache ja nun wirklich nicht mehr. Es schadet auch nicht, wenn ihr die verschiedenen Fahnen kennt, die ihr in der Parade seht, und z.B. die Diskussionen erläutern könnt, die mit dem schwarzen und brauen Streifen auf der Philly Pride Flag verbunden sind.

Inklusive Pride Flagge. Rechts die sechs Farbstreifen rot, orange, gelb, grün, blau und violett. Links in Winkelform Streifen in schwarz, braun, hellblau, rosa, weiß und ein gelbes Dreieck mit violettem Kreis.

– Lernen S‘ a bisserl Geschichte. Was ihr da seht, ist nicht nur ein bunter Karneval, und mit einem kurzen Abriss über Stonewall ist auch nicht alles erklärt. Die deutsche Geschichte ist nicht die amerikanische. Es gibt einen Haufen interessanter Geschichten zu erzählen, z.B. über Karl Heinrich Ulrichs, Magnus Hirschfeld, Fannyann Eddy, Marsha P. Johnson, queere Bewegungen vor 1969, verschiedene Untergruppen und politische Strömungen, Traditionslokale und Vereine vor Ort, historische, aber immer noch aktuelle Konfliktlinien wie den Tuntenstreit, die Bedeutung von BIPoCs in queeren Bewegungen, großartige Autor*innen und Künstler*innen und so viel mehr. Wenn ihr eine Reportage über eine CSD-Demo macht, dann gibt es einen ganzen Haufen Gelegenheiten, das, was ihr da seht, tiefer einzuordnen als nur mit „alles so schön bunt hier, was sind wir heute tolerant“. Ich warte seit Jahren darauf, dass mal ein Lederkerl nicht nur als besonders exotisches Tierchen durchs Bild laufen darf, sondern dass ein*e Journalist*in ihn zum Anlass nimmt, etwas über die Bedeutung der Lederszene beim Aufbau der Aidshilfen zu erzählen. Warum wisst ihr so etwas nicht? (Die Lederkerle, die ihr fragt, wissen so etwas oft auch nicht, die sind aber auch meistens keine Journalist*innen.)

Betroffenheit ersetzt keine Expertise. Erwartet nicht, dass alles Wissenswerte schon von den Leuten erzählt werden wird, die ihr vors Mikro bekommt. Nur weil eine Person queer ist, heißt das nicht, dass sie sich auch mit queerer Geschichte auskennt oder soziologisch über Diskriminierungen reflektieren kann. Es ist euer Job, ein wenig Expertise mitzubringen. Auch dann, wenn ihr richtige Expert*innen interviewt, solltet ihr schon vorher einen gewissen Überblick haben, sonst stellt ihr die falschen Fragen oder versteht die Antworten nicht. Lediglich Empathie zu besitzen oder vor einem Thema keine Angst zu haben, qualifiziert auch bei anderen Themen nicht, darüber zu berichten. Es darf auch beim CSD gerne etwas mehr sein.

Beauftragt die richtigen Leute. Es müssen nicht immer die queeren Menschen in euren Redaktionen auch die queeren Themen bearbeiten. Die wollen sicher auch mal was anderes machen. Aber wenn die anderen einfach keinerlei Fachwissen haben, schickt uns um Himmels Willen lieber doch die queeren Leute vorbei.

Sorgt für frische Gedanken. Eine kleine Challenge für euch: Verzichtet diesmal komplett auf die folgenden Wörter und Phrasen: „schrill“, „normal“, „in der Mitte der Gesellschaft“, „tanzten ausgelassen zu harten Beats“, „dürfen jetzt sogar heiraten“, „Toleranz“, „Westerwelle“ und „Wowereit“. Euch fallen sicher Formulierungen ein, bei denen nicht sofort alle einschlafen und die keinen problematischen Subtext produzieren. Gebt euch mal etwas mehr Mühe. Vielleicht lernt ihr dabei auch noch etwas Interessantes dazu.

Keine Unsinnsphrasen. Die Parade mag optisch bunt sein, aber bitte nicht behaupten, dass „unsere Gesellschaft immer bunter und vielfältiger wird“. Unsere Leben sind keine verdammten Dekostreusel. Und da wird auch nichts vielfältiger, sondern das, was schon immer da war, wird jetzt noch sichtbarer. Das passiert nicht von alleine oder weil alle so tolerant sind, sondern weil wir dafür sorgen. Wir kriegen dafür immer noch auf die Mütze. Überlegt euch, ob das, was ihr phrasiert, nur ein unbedachtes Narrativ ist oder ob es wirklich eine Realität abbildet. Achtet auf Subtexte. Überlegt, was eine Phrase eventuell eher verhüllt als offenbart.

Lagert Queerfeindlichkeit nicht ins Ausland aus. Es ist wichtig, über die Situation in anderen Ländern zu berichten. Es ist aber nicht richtig, damit die Situation in Deutschland zu relativieren. Auch hier ist nicht alles prima. Macht das bitte deutlich.

Lagert Queerfeindlichkeit nicht in die Vergangenheit aus. Es ist gut, über die Erfolge unserer Bewegungen zu berichten. Darauf sind wir zu recht stolz. Es ist aber nicht so, dass in Deutschland mit der Eheöffnung alles erledigt wäre. Danach müsst ihr also auch nicht immer wieder „provokativ“ fragen. Fragt einfach direkt danach, was hier noch alles im Argen liegt. Oder noch besser:

– Zeigt, dass man etwas über Queersein wissen sollte. Informiert euch selbst und sprecht die Probleme von selbst an. Es kann gut sein, dass ihr auf einen cis-schwulen Pressesprecher stoßt, der keine Ahnung vom Selbstbestimmungsgesetz und dessen Notwendigkeit hat. Es wäre prima, wenn ihr das an passender Stelle ergänzen könntet, wenn er es nicht anspricht. Ihr seid mitverantwortlich dafür, dass das Themenfeld möglichst breit abgedeckt wird. Und ihr signalisiert durch euer Wissen, dass man auch als nicht-queerer Mensch nicht ahnungslos vor der queeren Welt stehen und nach den simpelsten Dingen erst fragen muss. Lest queere Blogs wie die, die ich verlinke (und natürlich diesen hier). Hört queere Podcasts. Empfehlt auch eurem Publikum gute Informationsquellen. Lebt vor, dass totale Uninformiertheit über die Lebensrealitäten einer großen Bevölkerungsgruppe, mit der alle jeden Tag Kontakt haben, nicht der Normalfall sein sollte.

– Lagert Queerfeindlichkeit nicht nach rechts aus. Die sickert auch nicht erst neuerdings von rechts außen in die Mitte hinein. Die war schon immer in der Mitte und auch links, und da ist sie heute noch, überall. Wenn euch zu queerfeindlicher Gewalt nur Springerstiefel einfallen, dann streicht mal die Stiefel und lest die gleichnamige Presse. Lest den transfeindlichen Mist in der FAZ und in der Emma. Lest Thierse, Wagenknecht, Palmer, Feddersen. Queerfeindliche Hetze findet mitten in unserer ach so liberalen Medienlandschaft statt. Heute. Auch darüber kann man berichten. Lest dazu z.B. Johannes Kram.

– Fragt nach Lösungen. Nicht nur danach, wo noch offene Baustellen sind. Wir wollen nicht nur eine Bestandsaufnahme des Elends machen und besorgt die Köpfe schief halten, sondern vorwärts kommen. Darüber müssen wir alle gemeinsam nachdenken. Wir müssen Aktivitäten anschieben. Ihr könnt dazu beitragen.

– Mind the gap! Achtet darauf, über welche Buchstaben in unserem Akronym ihr mal wieder nicht geredet habt. Es müssen ja nicht immer alle gleichzeitig sein, aber vielleicht entdeckt ihr selbst noch Menschen, auf die ihr bisher gar nicht geachtet habt und auf die ihr neugierig seid. Lasst die Neugier auf euer Publikum überspringen.

Seid sensibel mit Fragen. Queere Biografien sind oft schmerzhaft. Es ist okay, darüber zu berichten, denn das müssen die Leute wissen. Es hat aber nicht jede Person Lust, in der Öffentlichkeit auf Knopfdruck über ggf. traumatisierende Erlebnisse zu berichten. So etwas muss vorher abgeklärt und der richtige Raum dafür gefunden werden.

– Redet mit Interviewpartner*innen nicht nur über deren persönliche Diskriminierungserfahrungen. Queerfeindlichkeit ist kein individuelles Problem, sondern ein gesellschaftliches. Informiert euch darüber, was strukturelle Diskriminierung ist und woher sie historisch kommt, wendet dieses Wissen an und verbreitet es weiter. So lange wir Queerfeindlichkeit als persönliche Charakterschwäche, als bloße Frage individueller Abneigung begreifen, so lange wir tolerante Gleichgültigkeit für die Lösung halten und nicht anti-queerfeindliche Aktion (individuell und politisch), werden wir unsere Gesellschaft nicht verändern. Es ist euer Auftrag, über die politische Dimension des Problems aufzuklären. Nehmt ihn bitte ernst.

Stellt nicht dauernd die Notwendigkeit unseres Aktivismus‘ in Frage. Ja, verdammt, natürlich ist der CSD noch notwendig. Er wird notwendig bleiben, so lange wir alle leben. Auch wenn ihr die Frage nutzt, um das Gegenteil aus euren Interviewpartner*innen herauszulocken, bleibt durch die ständige Wiederholung der Frage in den Köpfen hängen, dass man unseren Aktivismus eigentlich auch überflüssig finden kann. Wir wollen nicht jedes mal erst darüber diskutieren müssen, ob es Queerfeindlichkeit überhaupt gibt. Wir wollen darüber reden, wie wir sie bekämpfen können. Die Ausgangsfrage ist nicht: Gibt es überhaupt noch ein Problem?, sondern: Was wollen, können, sollten wir alle tun? Was muss die Politik tun?

Zeigt mal andere Fotos. Bildergalerien bieten eine gute Möglichkeit, ganz verschiedene Aspekte unserer Communities zu zeigen. Haltet nicht nur auf die Leute drauf, die am meisten ins Auge springen. Auf den ersten Blick unscheinbarere Teilnehmende können richtig tolle, starke Portraits liefern, wenn ihr gut fotografiert. Vielleicht sehen eure Leser*innen strahlende Augen genau so gern wie Sixpacks oder Netzstrümpfe. Wenn ihr nur ein einzelnes Foto auswählt, nehmt doch ausnahmsweise mal keine Drag Queen, so fotogen die auch sind. Viele von uns geben sich richtig Mühe, unsere politischen Forderungen originell und witzig auf Plakate zu bringen. Das ist politische Selbstermächtigung im besten Sinne. Belohnt das doch mal mit einem großen Foto.

– Stellt ungewohnte Fragen, wenn ihr eure Interviewpartner*innen dafür offen einschätzt. Nicht: Wo wirst du diskriminiert?, sondern zum Beispiel: Was ist eigentlich richtig klasse daran, lesbisch zu sein? Mischt das Narrativ der schicksalsgebeutelten Opfergruppe zwischendurch mal auf. Achtung, das kann schiefgehen. Es kann aber Überraschendes zeigen, wenn ihr mit Fingerspitzengefühl daran geht.

Versucht generell, auch weiter nach vorne zu denken. Wenn ihr selbst gut informiert seid und wenn ihr das auch zumindest einem Teil eures Publikums zutraut, dann müssen wir vielleicht nicht in der hundertsten Schleife von „Gibt es heute noch Diskriminierung?“ und „Wir erklären euch die einzelnen Buchstaben von LGBTIQ*“ hängen bleiben, sondern können anfangen, ein bisschen komplexer zu denken und wirklich in die Zukunft zu schauen. Zumindest im Pride Month sollte das mal drin sein. Vielen Dank an alle von euch, die das jetzt schon tun! Ihr macht wichtige Arbeit!

Noch ein Extratip für lokale politische Funktionär*innen:

– Keine Sonntagsreden. Es klingt ganz dufte, dass die Stadt, deren Bürgermeister*in / nach vorne geschubste*r Stadtverordnete*r / Gleichstellungsbeauftragte*r / Wasauchimmer ihr seid, „weltoffen, bunt und tolerant“ ist. Wenn ihr behauptet, dass „alle Bürger*innen dieser Stadt hinter queeren Menschen stehen“, dann weiß euer Publikum trotzdem ganz genau, dass es sich nicht überall sicher fühlen kann. Verarscht uns nicht, nur weil ihr gerne euer liebgewonnenes Selbstbild polieren wollt. Wir merken das. Statt eure eigene Stadt über den grünen Klee zu loben, erklärt uns, was ihr konkret politisch tut und zukünftig noch tun werdet. Werft uns keine schönen Floskeln hin, sondern zeigt uns, dass ihr unsere Probleme verstanden habt. So etwas wird wirklich anerkannt, versprochen.


Lese-Empfehlung: Schöner schreiben über Lesben und Schwule. Ein Leitfaden für Journalist*innen vom Bund lesbischer und schwuler JournalistInnen

4 Kommentare zu “Gerne etwas mehr. Anmerkungen zur CSD-Berichterstattung

  1. „Was ist so richtig geil am Lesbisch-Sein?“ autsch. das ist jetzt ein schlechtes Beispiel für eine Frage.
    Geil ist zumindest in meinen Ohren/Augen ein sexuelles Wort. Ergo würde ich mich dann wieder sexualisiert vorkommen, was mich grantig zurücklässt.
    Aber ja – Fokus auf das Positive find ich gut!
    danke für den Text, den sollte jede Redaktion im deutschsprachigen Raum bekommen!

    • Oweh. Diese Lesart ist mir beim Schreiben nicht in den Sinn gekommen. Die Frage kann man so nicht stellen, da hast du vollkommen recht. Ich habe es oben im Artikel geändert. Vielen Dank für den Hinweis!

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