Das Drama um das Gendersternchen geht in die 432. Verlängerung. Die Dialoge sind jedes mal dieselben. Und in jeder neuen Vorstellung wird unvermeidlich die beliebteste Figur aus der Versenkung auf die Bühne gehoben: die einfache Frau an der Supermarktkasse. Sie ist die zuverlässige Dea ex machina, die rettend eingreifen muss, wenn der Argumentationsboden für die Dämonisierung inklusiverer Sprache rissig wird und der böse Asterisk den Anti-Gender-Recken zu Fall zu bringen droht. Das passiert oft ziemlich früh im Stück.
Ihre Rollenbeschreibung ist strikt standardisiert. Sie ist explizit eine „einfache“ Frau, und das heißt zum Beispiel: Sie ist cis und heterosexuell. Immer. Sie ist niemals akademisch gebildet. Sie kann deshalb auch nicht ansatzweise nachvollziehen, welche rein Elfenbeinturm-fantastischen Zusammenhänge es zwischen sprachlicher Inklusion, Berufswahl, gesellschaftlichem Status und Gender gap möglicherweise geben könnte. Solche Begriffe kann die doch gar nicht kennen. Sie versteht nicht mal, wie man über so etwas Seltsames überhaupt nur reden kann. Denn sie ist auch niemals feministisch geschult. Sie weiß natürlich nicht, was nicht-binäre Menschen sind, weil sie nie irgendwelche queeren Bekannten hat, geschweige denn, dass sie selbst queer sein könnte. Nein, doch nicht die Frau im Supermarkt, niemals. Das alles interessiert die nicht.
Ihr einzig wahres Interesse, das wissen ihre Fürsprechenden, ist doch allseits bekannt: Geld. Wahre Gleichstellung[TM] findet im Geldbeutel statt, und nur dort! Es geht ihr also nur um gleiches Einkommen wie das der Männer an den anderen … äh … Kassen. Nee, Moment …
Ist ja auch egal. Es geht sowieso nicht wirklich um diese Frau. Sie ist eine stereotype Fiktion, ein dienstbereites Gespenst, und zwar hauptsächlich für Männer.
Um ihre Funktion zu erfüllen, muss die einfache Frau an der Kasse genauso eindimensional sein wie beschrieben. Teils, um als Maskottchen für verbittert gealterte oder schon als Arschlöcher geborene Linke herzuhalten, denen die vermeintlich monolithische Realität des guten alten Proletariats abhanden gekommen ist und die es unter der Flagge von Reaktion, Rassismus und Queerfeindlichkeit wieder zu versammeln hoffen. Teils als pittoreskes Milieugemälde für Menschen aus akademischen Familien, die sich nicht vorstellen können, dass Feminismus auch in Supermärkten stattfinden kann. Dass eine Frau – oder überhaupt irgendwer – sich dort vielleicht ein Studium finanzieren muss oder trotz guter Ausbildung in prekäre Verhältnisse geraten kann. Dass es tatsächlich in der ganzen Gesellschaft weibliche und nicht-binäre Menschen geben kann, die auch unabhängig von Lohnfragen einfach gerne überall mitgenannt werden möchten. Dass es eigentlich überall Menschen gibt, die sich aus verschiedenen Gründen für Gerechtigkeitsfragen und gesellschaftspolitische Zusammenhänge interessieren und durchaus in der Lage sind, sich dazu fundierte Meinungen zu bilden.

Auf dem Markt reaktionärer Fiktionen ist die einfache Frau an der Supermarktkasse das Gegenstück zum kleinen Mann, der jeden morgen um sechs Uhr aufsteht, um hart zu arbeiten. Auch für den wird bekanntlich oft so gesprochen, dass man sich fragt, wessen Stimme da eigentlich wem in den Mund gelegt wird und um wessen Interessen es wirklich geht, und auch er wird dabei gerne mal indirekt beleidigt, wenn man genauer hinschaut.
Die eindimensional angelegte Rolle der schlicht und materialistisch denkenden Person, die die „abgehobenen Diskurse“, in die man sich selbst so engagiert hineinsteigert, gar nicht begreifen kann, schließt jede Vielfalt und Erkenntnisfähigkeit aus. Das ist unrealistisch, überheblich und im Grunde eigentlich auch klassistisch. Ausgerechnet in diesem Zusammenhang eine Menschengruppe zu konstruieren, für die man angeblich das Wort ergreifen muss, weil sie selbst ihre Situation höchstens sehr reduziert einschätzen kann, hat etwas so unangenehm Paternalistisches, dass es verblüfft, wie selten genau dieser Aspekt kritisiert wird.
Sprechen hier eigentlich wirklich konservative Männer für marginalisierte Frauen, oder ist es eher umgekehrt so, dass sie diesen Frauen ihre eigenen reaktionären Überzeugungen in den Mund legen?
Beim kleinen Mann bin ich mir weniger sicher, aber ich habe den begründeten Verdacht, dass ziemlich viele reale Kassiererinnen die Schnauze verdammt voll davon haben, als Bauchredepuppen für Männer herzuhalten. Noch dazu für Männer, denen miese Löhne bei allen anderen Gelegenheiten scheißegal sind – außer, wenn sie mal kurz für eine antifeministische, antiqueere, reaktionäre Agenda instrumentalisiert und danach sofort wieder vergessen werden können.
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Noch was Grundsätzliches. Es geht beim Sternchen gar nicht um Frauen. Das mit den Frauen war das Binnen-I und die Doppelnennung, remember? Vielleicht könnte sich das langsam mal herumsprechen. Vielleicht können nicht-binäre Menschen dann wenigstens in den Diskussionen vorkommen, in denen es eigentlich tatsächlich mal um sie geht. Das ist unter diesem Text hier vielleicht eine etwas ironische Anmerkung, ich weiß. Aber wir arbeiten alle daran, abgemacht?