Die Ungleichbehandlung schwuler Männer beim Blutspenden ist ein leidiges Thema, das alle paar Monate neu aufploppt. Ich beobachte das schon lange und achte dabei insbesondere auf die moralischen Subtexte über vermeintlich gute und vermeintlich böse Sexualitäten, die leider schon immer unweigerlich in diese Debatte hineingetragen werden.
Noch vor einigen Jahren (2014 habe ich einen Artikel dazu geschrieben) stand im Zentrum schwuler Debatten das Wort „Generalverdacht“. Schwule Männer wehrten sich vielfach dagegen, pauschal als HIV-positiv „gebrandmarkt“ zu werden. Gleichzeitig sollte auch der schlimme Verdacht abgewehrt werden, dass diese braven Homosexuellen sich einen vermeintlich unmoralischen sexuellen Lebenswandel mit wechselnden Partnern außerhalb einer exklusiven Zweierbeziehung zuschulden kommen ließen.
Das Wort „Generalverdacht“ implizierte mehr oder weniger offen, dass beides, HIV-positiv zu sein und/oder nicht monogam zu leben, eine moralische Minderwertigkeit markiere. Dabei machten oft Zwischentöne den Unterschied. Es ist ein Unterschied, ob man eine zu unrecht unterstellte HIV-Infektion als faktisch falsch korrigiert (natürlich ist es richtig, dass nicht alle Schwulen HIV-positiv sind) oder ob man eine solche Unterstellung als angeblich beleidigend von sich weist und damit das Stigma HIV-positiver Menschen nur noch weiter bekräftigt. Dasselbe gilt für eine unterstellte Promiskuität. Viele Schwule leben mehr oder weniger promisk, aber nicht alle, und darüber sollte man reden können, ohne Promiskuität als einen vermeintlichen moralischen Makel angeekelt von sich zu weisen.
Die üble Vokabel „Generalverdacht“ ist meiner Beobachtung nach heute weitgehend aus der Debatte verschwunden (eventuelle gegenteilige Hinweise gern an mich). Nicht ganz so sicher bin ich mir, ob auch die damit verknüpften Abwertungen HIV-positiver und promisker Menschen wirklich vollständig aus den Köpfen verschwunden sind.
Allein heute stoße ich auf mehrere Diskussionsbeiträge, in denen die faktisch immer noch deutlich erhöhte HIV-Prävalenz von Männern, die Sex mit Männern haben (MSM) gegenüber der Restbevölkerung mehr oder weniger offen geleugnet wird. Als Subtext-Spürhund frage mich vor allem, was diese Faktenleugnung eigentlich motiviert. Ist es ein Reflex, Ungleichheiten zwischen uns und der Restbevölkerung auch dann abzustreiten, wenn sie einfach faktisch real sind?
Das Robert-Koch-Institut schätzte die HIV-Neuinfektionen bei MSM im Jahr 2020 auf ca. 1100. Dem standen ca. 530 Menschen gegenüber, die sich bei Hetero-Sex infiziert haben [Quelle]. Bei der vergleichsweise geringen Gesamtzahl von MSM in der Bevölkerung war das immer noch eine extrem erhöhte Prävalenz unter MSM, die in den letzten zwei Jahren kaum verschwunden sein dürfte.

Eine erhöhte Prävalenz innerhalb einer bestimmten Bevölkerungsgruppe erhöht logischerweise auch das statistische Risiko einer sexuellen Begegnung mit einem HIV-positiven Angehörigen dieser Gruppe. Das macht ein erhöhtes Bewusstsein für Schutzstrategien sinnvoll. Es ist schädlich, wenn die Blutspende-Regeln suggerieren, dass eine bestimmte Art von Sexualität oder der Sex mit bestimmten Menschen für das Infektionsrisiko generell ausschlaggebender sei als das konkrete Schutzverhalten (oder dessen Fehlen) bei der individuellen Begegnung. Richtig wäre es in jedem Fall, das konkrete Schutzverhalten stärker in den Mittelpunkt zu rücken (bzw. es überhaupt einmal abzufragen!) So kann man aber auch argumentieren, ohne erhöhte Prävalenzen in bestimmten Gruppen und deren inhärente Risiken komplett einzuebnen.
Zwar ist es richtig, dass die Zahl der Neuinfektionen bei MSM seit einiger Zeit leicht sinkt, während die der Infektionen durch Hetero-Sex steigt. Deshalb ironisch einen Ausschluss der Heterosexuellen von der Blutspende zu fordern, bleibt dennoch einfach nur ärgerliche Polemik.
Es gibt viele gute Argumente, die Ungleichbehandlung von MSM bei der Blutspende zu kritisieren. Faktenleugnung ist keines davon.
In einem Diskussionsbeitrag lese ich davon, dass es darum gehen sollte, das Narrativ der „Schwulenpest HIV“ zu beseitigen. Das ist an sich auch nicht vollkommen verkehrt. Ich kann gut verstehen, warum man es schlimm findet, wenn die moralischen Abwertungen, die mit einer HIV-Infektion leider immer noch verknüpft sind, auf alle Schwulen übertragen werden. Aber die Lösung des Problems wird ganz bestimmt nicht darin bestehen, den eigenen Kopf aus der Schlinge der HIV-Stigmatisierung zu ziehen, gleichzeitig aber nichts gegen diese Stigmatisierung an sich zu unternehmen.
Anderswo lese ich immer wieder die Empörung darüber, dass ja bei den Blutspende-Regelungen „sogar der Sex mit dem eigenen Ehemann“ als riskant eingestuft werde. Newsflash: Ein Ehezertifikat hat keinerlei medizinische oder magische Schutzwirkung. Wenn man einfach nur sexuell exklusive Beziehungen meint, ist es vollkommen unsinnig, zusätzlich den Ehestatus ins Spiel zu bringen. Es ist unübersehbar, dass die ganze Diskussion immer noch von Respectability Politics moralisch aufgeladen ist.
Ich bin sicher, dass viele der Schwulen, die jetzt schon wieder so viel Wert auf den Hinweis legen, dass Schwule doch auch HIV-negativ sein und sexuell exklusiv leben können, tatsächlich nicht vorhaben, gleichzeitig HIV-positive und promiske Schwule abzuwerten. Ich würde mir einfach nur mehr Sensibilität dafür wünschen, eventuelle internalisierte Abwertungen etwas kritischer zu prüfen und Subtexte zu vermeiden, die ungewollt in eigene Aussagen hineingeraten können.
Dazu wäre es, wie ich 2014 schon schrieb, sehr hilfreich, wenn mehr Aktivist*innen es hinbekämen, einfach einmal ausdrücklich zu sagen, dass weder eine HIV-Infektion noch ein promisker Lebensstil (noch Sexarbeit noch Drogengebrauch) etwas moralisch Verwerfliches sind; wenn sie also wegkämen aus der Verteidigungshaltung ihrer moralisch einwandfreien Burg, sondern sich tatsächlich explizit und offensiv für die Menschen stark machen würden, die in dieser Debatte wieder einmal viel stärker als alle anderen unter die Räder kommen.
Denn was wir hoffentlich alle verstanden haben, ist doch: Eine Saubermann-Strategie wird für Schwule nie wirklich funktionieren. Solange einige von uns stigmatisiert werden, werden wir alle stigmatisiert. Kurzfristig mag eine Entlastung der „braven“ Schwulen gelingen, aber langfristig wird niemand von uns sich vollständig dem Stigma entziehen können, solange wir nicht die Wurzeln entsprechender moralischer Hierarchien kappen.
Gegen Stigmatisierung helfen weder Empörung noch Distanzierung noch Faktenleugnung. Was hilft, sind Fakten, Ent-Moralisierung der Debatte und vor allem ausdrückliche Solidarität mit den eigentlichen Hauptopfern des Stigmas.
PS: Es wird zu recht darauf hingewiesen, dass auch trans Menschen bei der Blutspende diskriminiert werden und dass das leider sehr oft nicht mal thematisiert wird. Begründet wird die unterschiedliche Behandlung hier u.a. mit der Unterstellung, dass trans Frauen generell häufig der Sexarbeit nachgingen und dadurch einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt seien. Statt aber einfach individuell nach Sexarbeit zu fragen (wie das im Fragebogen eh schon geschieht) und dabei gleichzeitig zu berücksichtigen, ob Safer-Sex-Strategien angewendet werden oder nicht, werden trans Menschen eigens nach ihrem Trans-Sein gefragt, als ob das an sich schon ein Risikofaktor wäre. Ich habe versucht, einigermaßen nachzuvollziehen, ob/wie diesbezügliche Änderungen diskutiert werden, aber leider bekomme ich nicht genügend verlässliche Fakten und Diskussionsbeiträge zusammen, um das in vergleichbarer Weise zu diskutieren. Ich würde mich über entsprechende Hinweise freuen, die mein Informationsdefizit mindern könnten.
Lieber Fink, eigentlich es klar, dass du keine Fakten oder Disskusionsbeiträge zur Diskriminierung von trans Personen bei der Blutspende finden wirst. Einfach weil darüber nicht diskutiert und gesprochen wird, es wird einfach so hingenommen, Punkt. Oder eben komplett ignoriert, auch von anderen Queers. Mit Glück gibt es noch mal ein Mitleidsbekundung, aber meistens wird gleich darauf verwiesen, dass es nicht das Thema sei, sondern es eben deutlich mehr cisgeschlechtliche Männer betrifft, die zu Unrecht diskriminiert werden. Als Mini Minderheit müsse man auch mal akzeptieren, dass andere Probleme wichtiger sind. Oft wird es auch so gedreht, dass sobald schwule und bisexuelle Männer nicht nicht mehr beim Blutspenden diskriminiert werden, würde auch automatisch trans Personen nicht mehr diskriminiert.
Auf wie vielen Ebenen das falsch ist, darüber kannst du gerne nachdenken.
Und ja, natürlich ist das alles sehr provokant von mir formuliert, aber ich verweise gerne mal auf die Aussagen von Tessa Ganserer und Anna Langsch, die beide sagten beim Thema Geschlechtliche Vielfalt (also auch Transgeschlechtlichkeit) sind wir 30 Jahre hinter der Schwulen- und Lesbenbewegung hinterher.
Diese Aussage deckt sich doch komplett mit deinem Nicht-aufinden-können von Fakten und seriösen Disskusionen.
Mir persönlich ist es inwischen auch komplett egal, ob ich Blutspenden darf oder nicht. Mir ist es auch egal, ob die Reserven knapp werden und immer wieder zum Spenden aufgerufen wird. Ich werde in meinem Leben niemals Blut spenden, egal wie sehr andere darauf angewiesen sind. Sollte ich mal auf eine Bluttransfusion angewiesen sein, nehme ich die natürlich gerne an.
Ich lasse mich auch gerne für meine zynische Haltung und meinen Egoismus beschimpfen und kritisieren, dass ist immernoch besser als wegen meiner Transgeschlechtlichkeit diskriminiert zu werden.
Liebe Phoebe, danke für deinen Kommentar und entschuldige bitte die verzögerte Freischaltung – er war im Spamfilter hängen geblieben. Du bestätigst, was ich mir so ungefähr dachte. Wenn cis Schwule und trans Menschen betroffen sind, fallen letztere in der Wahrnehmung einfach hinten runter. Man hat ja über die Diskriminierung berichtet, was wollen die denn noch?
Ich finde übrigens nicht, dass irgend jemand eine ethische Verpflichtung zum Blutspenden hat. Und die Idee, dass jedes Geben und Nehmen immer miteinander verrechnet werden müssten (wer nichts gibt, bekommt auch nichts), ist mir zutiefst suspekt. Mit einer solchen Argumentation kann man meiner Meinung nach keine Solidargemeinschaft aufbauen, die den Namen verdient. Insofern: nö, ich finde deine Aussagen überhaupt nicht zynisch.
Vielleicht möchte der Spamfilter meine eMail Adresse nicht. *g*
Wie auch immer, zurück zum Thema.
Ja, es gibt eine Wahrnehmungslücke, ohne Zweifel. So mancher Mensch setzt queer mit Homosexualität gleich und die wiederrum nur cis Schwulen.
Was ja faktisch ein falsche Gleichsetzung ist, trans Menschen können jede sexuelle Orientierung haben. Ich weiß jetzt nicht mehr wer diese Statistik erstellt hat, kann also leider keine Quelle nennen, aber soweit ich mich erinnere ist die Mehrheit der europäischen, transgeschlechtlichen Frauen lesbisch. Das waren ,glaube ich, so um die 60%. Wir reden hier also über ein komplett anderes Bild.
Und auf der anderen Seite gibt es aber auch viele bekannte heterosexuelle trans Frauen, wie z.B. Lucy Hellenbrecht oder Alex Mariah Peter. Trotzdem sind sie queer, auch wenn sie hetero sind.
Ich selbst bin lesbisch, mit einer cis Frau verheiratet und hatte noch nie Sex mit Männern. Aber wie du schon sagtest, allein meine Transgeschlechtlichkeit wird als Risikofaktor bewertet. Ich könnte ja mit Männern schlafen und ich könnte der Sexarbeit nachgehen. Der Ausschluss erfolgt nicht aufgrund von Fakten, sondern auf Grundlage einer „moralischen Panik“. Das ist nichts weiter als ein Generalverdacht gegen eine Gruppe von Menschen.
Man muss sich auch bewußt machen, vor meinem Outing und meiner Transition hätte ich ohne Probleme Blut spenden können, ganz einfach weil ich da noch als heterosexueller, verheirateter Mann wahrgenommen wäre. Jetzt mit dem Label trans Frau geht es plötzlich nicht mehr. Das ist einfach nur absurd.
Danke für deine Ergänzungen, Phoebe!
Ich hab mich sehr über den neuen Artikel gefreut!
Das Thema ist in Österreich leider so emotional hochgekocht von Seiten der Betroffenen, gepaart mit einer extrem reaktionären Haltung der Blutspendeannehmer (Rotes Kreuz). Weiters bedürfte es genauere Kommunikation, die mehr als 2 Gehirnzellen beansprucht, einen wesentlich sorgfältigeren ausgearbeiteten Fragebogen und mehr Personal um das alles zu checken –> kostet Geld. Dumme Polemik ist kostengünstiger.
Die Forderung nach dem Ausschluss der Heteros find ich witzig, gerade weil es ja auch viel verdeckte Homo-/Bisexualität gibt, die neben der „exklusiven“ Heteroehe ausgelebt wird.
Bei den Betroffenen (oder vermeintlich Betroffenen?) lese ich leider zu oft das Bedürfnis nach der Opferrolle.
Als Lesbe fühle ich mich weder diskriminiert noch nicht-diskriminiert; immerhin gibt es kein Recht auf das aktive Blut spenden (somit sehe ich es unter Benachteiligung, aber keiner Diskriminierung). Dass es bei Lesben nach einer künstlichen Befruchtung wegen den künstlich beigemischten Hormonen nicht mehr gut ist, Blut zu spenden, kann ich annehmen.
Danke für deinen Kommentar, SR. Interessant, zu lesen, dass es in Österreicht wohl recht ähnlich ist.
Ich stimme dir zu, dass der Fragebogen sorgfältiger ausgearbeitet werden müsste. Es sollte konkretes Risikoverhalten abgefragt werden.
Ich gehöre selbst nicht zu denen, die die Beschränkungen bei der Blutspende-Zulassung als starke persönliche Einschränkung erleben. Es gibt aber Menschen, denen die Hilfe durch eine Blutspende ein wichtiges Anliegen ist, und ich kann es verstehen, wenn sie auf den Ausschluss auch emotional reagieren. Auch wenn es kein Recht auf Blutspende gibt, würde ich hier von Diskriminierung sprechen, da es sich um eine Ungleichbehandlung handelt, die mit Fakten m.E. nicht zu rechtfertigen ist.
Wichtig finde ich auch, dass es hier nicht nur um die Blutspendewilligen selbst geht, sondern auch darum, dass die Fragebögen eine gesellschaftliche Signalwirkung haben. Wenn Sex zwischen Männern – unabhängig vom Schutzverhalten – pauschal als „riskant“ markiert wird, dann findet diese negative Markierung innerhalb einer ohnehin schon vorhandenen gesellschaftlichen Stigmatisierung schwuler Sexualität statt und verstärkt diese abermals. Das kann man auch dann schwierig finden und kritisieren, wenn man selbst ohnehin kein Blut spenden will oder aus anderen medizinischen Gründen nicht als Spender*in in Frage kommt. Das Narrativ der Minderheit, die sich ohne echten Anlass nach der Opferrolle sehnt, finde ich hier deplaziert und ohnehin generell sehr problematisch.
Ich habe nie verstanden, warum es für Homo-Verbände ein Anlass ist, „nicht Blutspenden dürfen“ als Diskriminierung zu betrachten. (Keine Blutspende zu bekommen wäre hingegen eine!)
Wenn die Blut-Industrie (DRK & Co machen da ja offensichtlich Millionen mit – https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/politik/stern-millionendeals-mit-blutspenden-deutsches-rotes-kreuz-drk/) mein Blut nicht möchte, dann scheint der Mangel ja noch nicht so groß zu sein.
Ein weiterer Aspekt kommt bei vielen Menschen sowieso hinzu: Wer z.B. Allergiker ist und im Sommer (wenn auch öfters mal ein Mangel herrschen soll) ein Antiallergikum nutzt, darf auch nicht spenden. (Ich kenne keine Meldung eines Allergiker-Verbandes, der hier ruft: „Wir wollen auch Blut spenden dürfen!“) Und: Aus Erzählungen von schwulen Freunden weiß ich, dass einige von ihnen trotzdem spenden; aber dann offensichtlich beim Ausfüllen des Fragebogens es nicht so genau nehmen… Insofern scheint mir die tatsächliche „Gefahr“ einer HIV-positiven Blutprobe, die vor Verabreichung nicht als solche erkannt wird, doch nahe (oder bei) Null zu liegen.
Wenn nun irgendwann Schwule (und MSM) Blut spenden dürfen, warte ich schon auf den „1. Fall“, der dann wahrscheinlich zu mehr Stigmatisierung (und schrecklichen Boulevard-Überschriften) führen wird als es der Ausschluss vom Blutspenden jemals geschafft hätte.