Lieber Fußballfan,
du engagierst dich gerade sehr für die Rechte queerer Menschen. Du redest davon, dass man jetzt „Eier zeigen“ muss und forderst, dass die Spieler bei der WM mit einer bunten Armbinde ein Zeichen gegen Unterdrückung und für Toleranz setzen.
Ich finde das prima. Du tust das Richtige.
Ich nehme an, dass dir auch die Situation queerer Menschen in Deutschland bewusst ist? Du weißt sicher, dass jede Woche in unserem Land queere Menschen beleidigt, bedroht und geschlagen, manchmal sogar getötet werden?
Du weißt, dass es uns in Deutschland Mut kostet, eine Regenbogenflagge sichtbar zu tragen, weil die praktisch jederzeit und überall ein Anlass sein kann, nicht nur eine gelbe Karte gezeigt zu bekommen, sondern Gewalt zu erleben?
Weil dir die Rechte queerer Menschen wirklich wichtig sind, engagierst du dich vielleicht auch für das Selbstbestimmungsgesetz, gegen die operative Verstümmelung intersexueller Kinder, für ein queerfreundliches Abstammungsrecht, gegen das diskriminierende kirchliche Arbeitsrecht?
Vielleicht sind solche juristischen Dinge nicht so deins.
Aber dann bist du sicher die Person, die etwas sagt, wenn deine Kolleg*innen queerfeindliche Witze machen? Die es riskiert, sich mal bei den Kumpels querzustellen, wenn sie homo- oder transfeindlichen Quark reden?
Oder vielleicht bist du sogar der Mensch, der Hilfe organisiert, wenn du in der Öffentlichkeit erlebst, dass eine queere Person angegriffen wird?
Wenn du ein bisschen Geld übrig hast, informierst du dich dann über queere Organisationen und gibst denen was ab?
Du hast dich über die Bedeutung von Aufklärung informiert, widersprichst aktiv denen, die meinen, queere Themen hätten in Schulen nichts verloren und engagierst dich vielleicht sogar für entsprechende Projekte?
Wenn dir eine Person in deinem näheren Umfeld sagt, dass sie queer ist, dann machst du neugierig und sensibel die Ohren auf und wimmelst diese Person nicht ab mit einem „mich interessiert dein Privatleben nicht“?
Du hast dich informiert und so einigermaßen verstanden, was die Buchstaben LBGTQIA überhaupt im Detail bedeuten, weil du es für deine Pflicht hältst, über diesen Teil deiner Mitmenschen zumindest selbst keinen groben Unsinn zu verbreiten?
Du hast mitbekommen, welche Hetzkampagne auch in Deutschland gerade gegen trans Menschen und ihre Rechte läuft, und das ist dir nicht gleichgültig?
Du bist nicht die Person, die von einem Diskriminierungsfall mitbekommt und dann relativiert, abwiegelt, Überempfindlichkeit unterstellt oder dem Opfer selbst die Schuld gibt?

Du entschuldigst dich, wenn dir selbst ein unfreiwillig abwertender Spruch rausgerutscht ist und startest bei Kritik keine Tirade des Beleidigtseins, bei der du plötzlich selbst das Opfer bist?
Du nimmst ein Gender-Sternchen nicht zum Anlass für eine Empörungsrede über Cancel-Culture und Minderheiten-Terror, sondern freust dich über die Gleichbehandlung aller Geschlechter und die ausdrückliche Inklusion nicht-binärer Menschen?
Denn du weißt ja auch inzwischen, was nicht-binäre Menschen sind, oder? Du hast das nicht irgendwo mal gehört und bist sofort in eine spontane emotionale Abwehrreaktion gegangen, sondern hast dich informiert, worum es eigentlich geht?
Wenn dir queere Menschen erzählen, was sie sich von Allies wünschen, dann hörst du ihnen zu und redest dir nicht ein, dass die selbstzufriedene Gleichgültigkeit ausreicht, die du dir mit einem bunten „Lieb doch, wen du willst“-Sticker in deine Social-Media-Accounts geklebt hast?
Du hast mitbekommen, dass gerade erst wieder queere Menschen in einem Club in den USA erschossen worden sind? Du hast mal darüber nachgedacht, warum so etwas auch im sogenannten Westen immer wieder passiert und wer dafür mitverantwortlich ist?
Du hast mal eine Sekunde darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn man Courage und Engagement mit genitalen Metaphern verknüpft (Stichwort „Eier haben“, „Schwanz einziehen“ usw.) und positive Eigenschaften so einem Geschlecht mehr zuweist als einem anderen? Noch dazu ausgerechnet in der Diskussion über queere Menschen? (Nein, das wird nicht besser, wenn das auch der CSD Deutschland und Olivia Jones so formulieren.)
Du hast dich mal mit Feminismus beschäftigt und mit Geschlechtsrollenkritik? Du erzählst Kindern nicht, wie man sich „als Junge“ oder „als Mädchen“ verhalten soll?
Du findest Queerfeindlichkeit in christlichen Zusamenhängen genauso empörend wie in islamischen?
Du hast verstanden, dass auch die bunte „One-Love“-Binde, die du jetzt unbedingt sehen möchtest, nur eine möglichst regenbogen-unähnliche Farbkombination war, die bloß keinen Widerstand erzeugen sollte?
Dir sind also die Rechte queerer Menschen wirklich wichtig, und zwar auch in deinem eigenen Land und deinem eigenen Alltag?
Es geht jetzt garantiert nicht nur darum, Deutschland in einer rein symbolischen Aktion auf Kosten des rückständigen Auslands als perfekt queerfreundlich zu zeichnen und in einer männlich konnotierten stellvertretenden Heldenpose das eigene Ego zu beflauschen? Sondern es geht um mehr, ist wirklich ernst gemeint und darf dich auch selbst etwas kosten?
Ja? Dann ist ja alles gut.
… ganz herzlichen Dank, lieber Zaunfink! … und herzlichen Glückwunsch für diese ressourcenorientierte Ansprache queernationalistischer Fähnchenschwenker*innen. Der Text ist
ein vielversprechender Opener für Fobis rund um Queer und Gender; das wird bei nächster Gelegenheit dann auch mal ausprobiert 🙂
Fobis = Fortbildungen? Das möchte ich dann aber auch berichtet bekommen. ;-)