„Alle sollten für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn bekommen. Aber wenn ein Chef den Frauen einfach weniger bezahlen möchte, ist das total okay.“
Schon mal gehört? Ich auch nicht.
„Ich persönlich verwende keine abwertenden oder beleidigenden Begriffe für marginalisierte Menschen. Aber wenn jemand das tun möchte, ist das natürlich völlig in Ordnung.“
Könnte eine Person das sagen – beispielsweise im Bundestag –, ohne dafür auf die Mütze zu bekommen? Vermutlich nicht.
Nur in der Debatte über gendergerechtere Sprache hat sich eine allgemeine Beschwichtigungskultur etabliert. So wird aktuell die Linken-Politikerin Heidi Reichinnek für eine tatsächlich hörenswerte Rede im Bundestag gefeiert. Sie greift dort auf recht Esprit-reiche und humorvolle Weise in einer Sitzung zum Thema „Gendern“ [1] die AfD an.
Sie sagt aber auch: „Es ist total okay, nicht gendern zu wollen.“
Sie ist damit nicht allein. Es fällt auf, dass sich beim Thema Sprach-Repräsentation ein breiter Konsens gebildet hat: Man kann geschlechtergerechtere Sprache gut finden und selbst anwenden, es darf aber um Himmels Willen nicht der Eindruck entstehen, dass auf irgendjemanden ein sozialer oder ethischer Druck ausgeübt wird, es gleichzutun. Auch leidenschaftliche Befürworter*innen sprachlicher Repräsentation finden es oft notwendig, explizit klarzustellen, dass es selbstverständlich jeder Person frei steht, ob sie alle Geschlechter ansprechen möchte – oder ob sie das eben lassen will.
Ich halte diese Bagatellisierungs- und Begnadigungskultur für untersuchungswürdig. Wie kommt man dazu, ein bestimmtes Verhalten ethisch deutlich besser zu finden als ein anderes, dieses andere aber sehr ostentativ für genauso akzeptabel hinzustellen? Wie wird gerechte Entlohnung zur festen politischen Forderung, gerechte Sprache aber zu einem optionalen Nice-to-have? Weshalb gilt direkte Beleidigung marginalisierter Menschen als klar zu benennendes Problem, sprachliches Unsichtbar-machen aber als individuelle Geschmacksfrage?
Ein Grund scheint mir zu sein, dass das Problem von Vielen eben doch nicht so richtig wichtig genommen wird: Das betrifft doch eh nur so furchtbar wenige Menschen. Es ist doch nur Sprache. Dieses Genderdingens, das hat doch eher mit Lifestyle zu tun als mit richtiger Politik. Gender- und insbesondere queere Themen werden traditionell in die Gedöns-Schublade aussortiert, und das hat sich bis heute nicht überall geändert.
Grund Nummer Zwei ist die beliebte, aber falsche Trennung zwischen echten und irgendwie nicht so echten Problemen. Kein Geld in der Kasse: echtes Problem. Keinen Arbeitsplatz oder keine Wohnung bekommen: echte Diskriminierung. Aber nicht gedacht und nicht angesprochen werden: Schneeflockenprobleme im Elfenbeinturm. Viele Menschen haben eigentlich verstanden, dass gedankliche, sprachliche, ideologische Ungleichbehandlung bzw. Auslöschung nicht zu trennen ist von den materiellen Umständen, in denen Menschen leben (müssen), und sie setzen diesen Gedanken trotzdem nicht so konsequent um, dass sie ganz entschieden sagen: Es ist mir nicht egal, ob wir auch (!) die sprachlichen Wurzeln von Diskriminierungen bekämpfen.
Auch Reichinnek greift in ihrer Rede den vermeintlichen Gegensatz von „Gendersprache und echten Problemen“ auf, um ihn erst der AfD als Argument anzulasten, ihn aber anschließend selbst zu bestärken. Sprache erscheint so tatsächlich als ein Feld, in dem gar keine „echte“ Diskriminierung geschieht. Nur wenn man Sprachhandeln nicht als reales Handeln mit realen Konsequenzen ansieht, kann man sprachliche Diskriminierung zur reinen Geschmacksfrage erklären.

Die merkwürdige Beschwichtigungs-Kultur beim Entgendern scheint mir drittens eingebettet in eine latente bis akute Perversion des Freiheitsbegriffs, die wir derzeit in so vielen gesellschaftspolitischen Bereichen erleben. Es hat sich als erfolgreiche rechte Strategie durchgesetzt, ausnahmslos jede ethische Bewertung irgendeines Handelns zum unzulässigen Eingriff in eine als unantastbar und absolut gedachte persönliche Freiheit zu erklären. Jemand findet, dass wir aus Rücksicht auf beleidigenden Wörter verzichten sollten? Aber meine Meinungsfreiheit! Jemand beklagt, dass ein Comedian üble rassistische Klischees bedient? Zensur! Es ist ethisch geboten, gefährdete Mitmenschen durch Maskentragen zu schützen? Diktatur!
Da ist bewusst eine Kultur geschaffen worden, in der jede ethische Bewertung von irgendwas als per se geradezu demokratiefeindlich aufgefasst wird – außer natürlich, wir reden von den vielen fragwürdigen ethischen Bewertungen, die der konservativen deutschen „Leitkultur“ traditionell eingeschrieben sind; die sind ja normal. Jede ungewohnte Handlungsempfehlung, so sehr sie auch mit rationalen Argumenten unterfüttert ist, wird von der rechten Mitte als inakzeptable Infragestellung des einzigen noch bleibenden Wertes gerahmt: Freiheit. Gemeint ist dabei immer die Freiheit, sich weiterhin so unethisch verhalten zu dürfen wie anno Tobak, ohne dafür kritisiert zu werden.
In diesem Rahmen begreife ich die demonstrative Zurückhaltung vieler Befürworter*innen des gerechten Sprachwandels. Wenn ich nur selbst spreche, wie ich es für richtig halte, dann löst das oft schon genug Verstörung aus. Lann Hornscheidt hat das einmal so beschrieben: „Sich exgendernd sprachlich zu verhalten, macht dich sichtbar in einem Meer gegenderter Normalität. Du wirst Fragen bekommen, du musst dich erklären, du bist nicht einfach selbstverständlich so da und selbstverständlich für andere.“ Das kann je nach Kontext schon anstrengend genug sein. Wenn ich aber auch noch erkläre, dass ich es wirklich besser fände, wenn alle das täten, was ich für die ethisch bessere Option halte, dann muss ich mich dem gerade erwähnten leider sehr mächtigen und wuchtigen Narrativ stellen: Da will schon wieder jemand unsere Freiheit einschränken, uns den Mund verbieten, die Demokratie abschaffen. Das ist stressig und knifflig, ich weiß es aus eigener Erfahrung, und nicht immer hat man dafür die Energie.
Viertens: Es ist etwas anderes, ob man ein paar diskriminierende Wörter durch wertschätzendere ersetzt oder ob man die patriarchal durchgenderte deutsche Sprache inklusiver gestalten möchte. Da geht es nämlich an die innersten Strukturen unserer Sprache. Ob bewusst oder unbewusst scheint hier die Parallele zu anderen Diskriminierungsdebatten auf: Es ist immer leichter, über kleine kosmetische Veränderungen zu verhandeln. Aber wer offenlegt, dass Diskriminierung in das tiefste strukturelle Geflecht unserer Gesellschaft eingewoben ist, muss überall mit wesentlich mehr Widerstand rechnen. Da fühlen sich Menschen auf einer Ebene angegriffen, die sozusagen ans Eingemachte der Identität geht. Genau das ist aber der Grund, weshalb ich gerade bei der Diskussion um gerechtere Sprache Wert auf Konsequenz lege: Es geht hier (auch) um ein Bewusstsein dafür, wie schwer es ist, strukturelle Diskriminierungen zu beheben, welche Widerstände da in uns allen (!) überwunden werden müssen und wie wir auch über diese Widerstände miteinander ins Gespräch kommen können, ohne sie mit leichter Hand beiseite zu wischen.
Wir können und sollten sogar darüber diskutieren, aus welchen Gründen so viele Menschen bestimmte neue Sprachformen nicht oder nur manchmal verwenden wollen. Vielleicht möchte jemand gerne entgendern, aber hat noch keine Übung. Vielleicht fehlt es an Informationen. Vielleicht gibt es Situationen, in denen man aus nachvollziehbaren Gründen eine politische Konfrontation scheut. Weder habe ich selbst die höchste Perfektion sprachlicher Gerechtigkeit erreicht, noch erwarte ich die von anderen. Aber ich bin überzeugt, davon, dass sprachliche Inklusion objektiv gerechter ist als sprachliche Exklusion und ich werde eines nie tun: sagen, dass es mir einfach egal ist, ob Menschen gerecht handeln oder ungerecht. Denn eines muss auch klar sein: Der Grund, sprachlichen Wandel abzulehnen, kann einfach darin bestehen, dass man die Gerechtigkeit, um die es da geht, tatsächlich verhindern will. Und das finde ich ganz bestimmt nicht „total okay“.
Und wie glaubwürdig wäre denn meine Entscheidung für ein bestimmtes, in meinen Augen gerechteres Handeln, wenn ich mich so ausdrücklich nicht dafür einsetze, dass andere meinem Beispiel folgen? Wie soll das denn rein logisch funktionieren, dass ich ein bestimmtes anderes Verhalten für objektiv ungerecht und falsch halte und mich gleichzeitig dermaßen darum bemühe, dieses Verhalten trotzdem für völlig akzeptabel und nicht kritisierbar zu erklären? Wie effektiv ist die Werbung für eine Veränderung, wenn man ihrer Verweigerung gegenüber ostentativ gleichgültig ist?
Wie schon anklang, habe ich Verständnis für soziale Energiesparmaßnahmen. Aber ganz ehrlich: Ob ich nun sage, dass ich es durchaus gut fände, wenn auch andere Menschen sich um sprachliche Gerechtigkeit und Verantwortung bemühen oder ob ich das abstreite, das macht für die Leute, die mich dafür angreifen, eh keinen Unterschied. Ich bleibe dabei aber wenigstens konsequent. Ich bestärke nicht das große unselige Narrativ, wonach Diskriminierung und Anti-Diskriminierung nur eine Frage der persönlichen Meinung und nicht von objektiver Gerechtigkeit und demokratischer Grundhaltung seien. Ich trage nicht zu dem ethischen Relativismus bei, der im Zweifel immer den ganz und gar Falschen nutzt.
Denn das scheint mir hier die wichtigste Frage: Wer profitiert eigentlich in einer ungerechten Situation von unserer Gleichgültigkeit, und wer verliert?
[1] Ich mag den Begriff „Gendern“ nicht, weil er suggeriert, dass man in unserer Sprache gendern oder nicht gendern könne und dass beispielsweise das generische Maskulinum keine Form des Genderns sei. Dadurch wird verschleiert, dass Gender traditionell fest in die deutsche Sprache eingeschrieben ist (nur eben auf eine einseitige und ungerechte Weise) und nicht erst jetzt plötzlich irgendwie dazu gekünstelt wird.