Eine Münchner Bücherei plant eine Lesestunde mit einer Drag Queen, einem Drag King und einer trans Frau für Kinder ab vier Jahren, und es hagelt Empörung und Misinformation, verbreitet unter anderem durch die BILD. Da werden Dragqueens und trans Frauen durcheinandergeworfen, werden rechte Kampfbegriffe wie „woke Frühsexualisierung“ nicht nur von der AfD abgeschossen. Aber besonders beunruhigend: Die CSU-Fraktion des Bezirksausschusses München-Bogenhausen fordert ein Verbot der Veranstaltung durch den SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter. Der, noch 2021 mit dem Tolerantia Award ausgezeichnet, hat dazu aktuell nur zu sagen, dass er diese Veranstaltung ebenfalls ablehnt. [Link]
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Vor allem ältere autobiografische Berichte über queere Kindheit und Jugend sind meistens Schilderungen eines quälenden Nichtwissens: Ich hatte keine Vorbilder. Ich dachte, ich wäre die einzige Person auf der Welt, die so ist wie ich. Ich kannte niemanden, der mir etwas erklären konnte. Es gab keine Informationen. Ich hatte kein Wort dafür, was ich bin und was mit mir los ist. Diese Berichte sind oft voller spürbarer Verzweiflung. Queere Biografien waren für viele Menschen oft über viele Jahre hinweg vor allem private Höllen des Nichtwissens, des Sich-selbst-nicht-Verstehens.
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Wissen über die Realität ist nicht einfach so da. Wissen ist eine Ressource, die kulturell hergestellt oder nicht hergestellt wird, die kontrolliert und kuratiert wird. Das hat natürlich immer mit Machtverhältnissen zu tun. Marginalisierung ist immer auch eine Diskriminierung auf der Ebene dessen, was gewusst werden kann und was nicht.
Es gibt einen Begriff, der sehr hilfreich dabei ist, zu verstehen und zu beschreiben, was Diskriminierungen mit Wissen bzw. Nicht-Wissen zu tun haben: Epistemische Ungerechtigkeit. 2007 von der Philosophin Miranda Fricker beschrieben, kursierte das Konzept schon früher in feministischen, anti-rassistischen und postkolonialen Theoriedebatten.
Es geht dabei um die Frage, welches Wissen es in welchen Gesellschaften / Räumen überhaupt gibt oder nicht gibt und wem es zugänglich oder nicht zugänglich ist. Welchen Personen wird aufgrund struktureller Machtgefälle zugehört und geglaubt, wenn sie etwas sagen, welchen nicht? Wer kann also Wissen produzieren und wer nicht? Welche Begriffe und Konzepte existieren oder existieren nicht? Welche Arten des Nicht-Wissens sind so strukturell, dass wir nicht einmal erkennen, dass wir etwas nicht wissen? Welches Wissen wird gezielt unterdrückt?
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Wir reden zu recht viel über queere Sichtbarkeit. Dabei geht es um das Recht, uns nicht verstecken zu müssen, sondern die Menschen wissen zu lassen, wer wir sind. Das bietet ihnen die Chance, eigenes Wissen über queere Menschen in Frage zu stellen und zu erweitern. Sichtbarkeit schafft Wissen. Manchmal steht unausgesprochen die Vorstellung im Raum, dass Wissen in der Gesellschaft einfach nur noch unzureichend vorhanden ist. Queeres Wissen und Sichtbarkeit müssen demnach einfach antreten, diese Lücke zu füllen. Jeder Schritt in Richtung Wissen führt einen weiteren Schritt vorwärts.
Wichtig ist aber die Erkenntnis, dass eine Ungerechtigkeit des Wissens sich nicht einfach so passiv ereignet. Das würde bedeuten, dass vorhandene Wissensmängel einfach widerstandslos behoben werden können. Ungerechtigkeit des Wissens wird aber schon immer aktiv hergestellt. Es geht nicht nur um aktive Wissensproduktionen, die mal dieses, mal jenes Wissen ins Bewusstsein der Gesellschaft treten lassen, wobei vielleicht einige Informationen aus reiner Trägheit oder aus Zufall eher ignoriert werden als andere. Ignoranz ist nichts Passives. Wir müssen uns immer wieder klarmachen, dass Wissen, speziell queeres Wissen, auch immer aktiv sabotiert, verhindert und wenn es geht, wieder zerstört wurde und wird.
Zu den Schriften, die die Nazis 1933 auf dem damaligen Berliner Opernplatz verbrannten, gehörten vor allem Unterlagen aus Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft. Ein großer Schatz an queerem Wissen wurde gezielt und nachhaltig zerstört. Und wer weiß das heute? Wann wird dieses Detail in historischen Berichten genannt? Wer glaubt mir, wenn ich das erzähle und erkennt die Bedeutung dieser Auslöschung? Solche weißen Flecken in der Geschichtsschreibung sind kein Zufall.
Auch queere Biografien sind geprägt von dem Willen, Wissen zu unterdrücken. Jeder queere Mensch kennt den permanenten äußeren Druck, doch bitte möglichst unsichtbar zu bleiben. Jedes Coming-Out ist die Aussage: Ich will, dass man etwas über mich weiß. Queere Menschen wissen und spüren immer noch, dass das oft nur gegen einen Widerstand geschehen kann. Wir erleben, dass oft sogar eine ganz harmlos-alltägliche Äußerung über das eigene Leben als Tabubruch wahrgenommen und mit plötzlichem Unbehagen quittiert wird. Man will „das“ nicht über uns wissen. Und wir wissen, dass man das nicht wissen will. Immer noch werden Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt als bewusste oder unbewusste Druckmittel eingesetzt, um uns zum Verstummen zu bringen.
Gleichzeitig greift hier ein anderes Nichtwissen: Nicht-queere Menschen sind immer noch oft erstaunlich ahnungslos, was genau diesen Druck angeht. Sie fragen ehrlich verwundert, warum denn „das“ immer noch so ein Thema ist, warum wir angeblich so einen Rummel um unser Leben machen, warum wir immer noch Angst vor Ablehnung haben. Wer wollte, könnte das alles wissen. Die Informationen sind da, werden aber ignoriert oder verdrängt. Auch da gelingt es immer noch, queere Lebensrealitäten nicht-wissbar zu machen. Diesen Menschen ist nicht einmal bewusst, wie viel sie nicht wissen.
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Sichtbar zu sein bedeutet, als Vorbild für Wissen verfügbar zu sein. Nicht sichtbar sein zu können, weil Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt drohen, bedeutet, Wissen nicht verfügbar machen zu können. Es bedeutet in gewisser Weise, nicht wiss-bar zu sein. Und genau das ist, mal mehr oder weniger bewusst, das Ziel unserer Gegner*innen. Das ist der Zusammenhang, in dem auch staatliche Verbote queerer Sichtbarkeit stehen und schon immer gestanden haben.
Aktuell werden in vielen Ländern der Welt Gesetze erlassen, die vor allem auf die Zugänglichkeit von Wissen über queeres Leben zielen. Russland war Vorreiter bei Gesetzen gegen sogenannte „Homo-Propaganda“. Inzwischen ziehen zahlreiche Staaten nicht nur in Osteuropa nach. Queeres Wissen wird aktuell auch in einigen Staaten der USA an Schulen und Universitäten von Seiten des Staates ganz unverhohlen kriminalisiert. Das sind keine jeweils individuellen politischen Entscheidungen, sondern Ergebnisse der Lobbyarbeit eines internationalen autoritaristischen Netzwerks mit einem Millionen-Bugdet und einer klaren politischen Strategie und Agenda. [Link] Ich weiß, dass das nach einer Verschwörungserzählung klingt, es ist aber mehrfach untersucht worden, unter anderem vom European Parlamentary Forum für Sexual & Reproductive Rights. [Link]
Es fällt auf, dass dabei zunächst vor allem Kindern das Wissen vorenthalten werden soll. Die langfristige Tendenz ist aber deutlich. Es geht darum, dieses Wissen wieder gänzlich zu zerstören. Vor Kurzem erst wurden die russischen Gesetze zur Zensur queerer Sichtbar- und Sagbarkeit in Räumen, in denen Minderjährige anwesend sein können (was ohnehin schon sehr viele Räume waren) auf die ganze Öffentlichkeit ausgedehnt. Die Dämonisierung von allem, was radikalisierte Konservative sich unter „Woke“ vorstellen, zielt darauf ab, unter anderem jedes Wissen um queeres Leben endgültig zu zerstören.
Die Moralpanik um queere Sichtbarkeit hat konkrete und schlimme Folgen. Sie fließt aktuell in immer mehr Staaten der Welt in Gesetze ein. Es geht dabei selten (wenn auch immer noch viel zu oft) darum, queeres Leben an sich und direkt auszulöschen. Der Ansatzpunkt ist das Wissen. Queeres Leben soll wieder un-wissbar gemacht werden. Es soll wieder aus der Öffentlichkeit verschwinden.
Das wird nicht gelingen. Diese regenbogenfarbene Zahnpasta bekommt ihr nicht wieder in die Tube. Aktionen wie die Drag-Lesestunden sind nur ein kleiner Teil einer queeren Aufklärungs-Erfolgsgeschichte.
Aber es hat trotz Fortschritt und Internet nie und nirgends eine Zeit gegeben, in der alle queeren Kinder und Jugendlichen genug Zugang zu dem positiven Wissen hatten, das sie benötigt hätten, um benennen und verstehen zu können, wer sie sind und was sie wollen.
Autoritaristische Kräfte in aller Welt wollen, dass das so bleibt. Sie wollen queere Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche, wieder in die Hölle des Nichtwissens und Nichtverstehens schicken, die so viele von uns durchleiden mussten. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann sich vielleicht nur schwer vorstellen, was das bedeutet. Jedes queere Kind, das in diesem bewusst und aktiv produzierten Nichtwissen aufwachsen muss, ist schlimmstenfalls von Suizid bedroht.

Es hat nie eine Zeit gegeben, in der nicht alle Kinder auch mit queerfeindlicher Desinformation aufgewachsen sind. Diese Desinformation soll wieder das einzige Wissen werden, das Kinder zukünftig erhalten. Und auch ihre Eltern, Lehrer*innen und sonstige mögliche Beschützer*innen. Das ist das Ziel der genannten Gesetze: Der vollständige Ersatz von Wissen durch menschenfeindliche Desinformation.
Denn gleichzeitig arbeiten dieselben Menschen an einer massiven Produktion von falschem, negativem Wissen über queere Menschen. Sie werten positive Vorbilder und Begriffe in negative um. In Russland werden Homosexuelle als Gefahr für Kinder verteufelt. In den USA werden vor allem trans Menschen als „Groomer“ dämonisiert, also als Menschen, die sich Kinder gezielt für sexuelle Übergriffe gefügig machen wollen.
Autoritaristische Rechte greifen zum Kinder-Trick, weil der schon immer dazu gedient hat, faschistische, menschenfeindliche Politiken mehrheitsfähig zu machen: Queere Menschen werden als moralisch verkommene und perverse Monster dämonisiert, die nach den reinen, unschuldigen Kindern der normalen Menschen greifen. Unter dem Deckmantel des Kinderschutzes wurden schon immer protofaschistische Politiken eingeführt. Das angeblich bedrohte unschuldige Kind ist eines der erfolgreichsten Scharniere des Faschismus in die vermeintliche Mitte der Gesellschaft. Wir haben in zu vielen Staaten und in verschiedenen antiqueeren und antidemokratischen Bewegungen erlebt, wie gut das funktioniert, um nicht alarmiert zu sein.
Diese Strategie schert sich in Wahrheit einen feuchten Dreck um den Schutz von Kindern. Aus autoritaristischer Sicht geht es lediglich darum, Kinder als stumme Verfügungsmasse möglichst weitgehend der Macht ihrer Eltern zu unterwerfen. Besonders perfide ist, dass mit dem Wissen auch die Solidarität angegriffen wird. Wer sich verbal oder sogar tätlich für queere Menschen einsetzt, gerät selbst in den Kreis der Dämonisierten und wird mitbestraft. Wir sehen das überdeutlich an den Gesetzen, die sehr gezielt jede Hilfe für trans Minderjährige, für Homosexuelle oder für Abtreibungswillige buchstäblich kriminalisieren. Autoritaristische Politik zielt darauf ab, das Menschlichste am Menschen zu zerstören: Mitgefühl und Solidarität mit Menschen, die Hilfe brauchen.
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Ein besonders aktiver Kämpfer gegen queeres Wissen ist Ron DeSantis, Gouverneur von Florida, möglicher Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Er ist der wohl prominenteste Vernichter von Trans-Rechten in den USA und ein Experte in Sachen „Kinderschutz vor queeren Monstern“. Er hat das bloße Sprechen über queere Menschen und über Rassismus an Schulen per Gesetz kriminalisiert. Wegen einer absurden Anti-Drag-Gesetzgebung in Florida musste inzwischen eine Pride Parade abgesagt und andere Pride-Veranstaltungen auf über 21-jährige begrenzt werden. [Link] Es beunruhigt, wenn sich die CSU-PolitikerInnen Andreas Scheuer, Dorothee Bär und Florian Hahn betont freundschaftlich mit einem solchen Menschen treffen. [Link] Seine Agenda – und mittlerweile die Agenda seiner gesamten Partei – richtet sich sehr gezielt auf die Zerstörung von Wissen. Inzwischen werden in den USA in zahlreichen Staaten Bücher aus Bibliotheken verbannt, die sich (angeblich) mit Queersein oder Rassismus beschäftigen.
Die Verbotsforderung der Lesung durch die regionale CSU folgt exakt dem politischen Playbook dieser US-amerikanischen Republikaner. Seit längerer Zeit stehen dort solche Lesestunden im Visier der christlichen Rechten. Regelmäßig werden solche Lesungen und andere Drag-Veranstaltungen von rechtsradikalen Terrorgruppen angegriffen, zuletzt in Ohio ganz unverhohlen mit Hakenkreuzfahnen, Uniformen und Hitlergruß. [Link]
Das ist der Kontext, in den sich deutsche Parteien einordnen, die ein solches Verbot fordern oder zulassen. In diesem Kontext stehen allgemein Parteien, die sich rechte Kulturkampf-Parolen und Kampfbegriffe wie „Woke“, „Frühsexualisierung“ oder „Gender-Wahnsinn“ zu eigen machen. Und das ist der Kontext, den viele deutsche Journalist*innen vermutlich wieder einmal nicht kennen oder nicht benennen werden, wenn sie darüber berichten, was gerade passiert.
Sie alle machen sich mitschuldig an der Produktion neuer Wissens-Ungerechtigkeit, an politisch gewolltem Nicht-Wissen. Wir brauchen mehr Bewusstsein dafür, was dieses Nicht-wissen-Sollen bedeutet, welche antidemokratischen politischen Bestrebungen dahinter stehen und welche Konsequenzen es hat, besonders für Marginalisierte. Nicht-Wissen tötet.
Brillant beobachtet – wie immer – vielen Dank!
Und das Emoji: genial!
Vielen lieben Dank für die klare Kante
Also diesen DeSantis beobachte ich ja schon seit ein paar Jahren mit Ekel und Sorge. Aber dass das solche Ausmaße schon angenommen hat, uff.
Und man kriegt selbst bei regelmäßigem und fleißigem Nachrichtenlesen nur einen Bruchteil davon mit…. x_x
Herr DeSantis und alle anderen, die solche Dinge zum Machterhalt nutzen: Wir werden nicht schweigen.
Wie so häufig: Chapeau!
Kluges vom Zaunfink | Carmilla DeWinter
Und dass es seit ein paar Jahren auch gegen asexuelle und aromantische Menschen geht (nicht nur, aber v.a. im Zusammenhang mit Anti-Trans-Rhetorik) und wir ebenfalls als „Groomer“ betitelt werden, ist leider der Beweis, auf den wir immer gewartet haben (nicht), dass wir von denen, für die queeres Sein nicht sein darf, als genauso queer wahrgenommen werden und damit genauso Teil der Community sind wie alle anderen Queers auch.